Mein innerer Reichstagsbrand
gilt den Vollidioten des Internet, die gestern abend völlig unnötig glaubten, eine Riesenwelle starten zu müssen, weil gestern Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein im ZDF gesagt hat, für Miroslav Klose müsse sein Treffer doch "ein innerer Reichsparteitag" sein.
Ich hab erst noch gegrinst, als die ersten verdutzten Tweets kamen. "Was hat die grade gesagt?", "Hab ich mich verhört?" und so weiter. Aber es blieb nicht dabei. Man begann, sich aufzuschaukeln und in einer seltsam hysterischen Art und Weise zu empören, inklusive schräger Auswüchse wie Klose sei ja polnischer Herkunft, da gehe so ein Spruch ja doppelt nicht, und das ZDF müsse reagieren, warum hat sich der ZDF-Twitterkanal noch nicht zu diesem Skandal geäußert (nach 10 Minuten)... ein Trauerspiel begann, in dem ich und einige andere offenbar zu spät begannen, mal nachzuhaken, wo denn eigentlich das Problem gesehen wird. Man konnte aber auch gar nicht so recht glauben, dass der Ausdruck so derart missverstanden werden kann.
Ich hatte gestern per Twitter einige Diskussionen mit einzelnen Internetcommunitybenutzern, die ich auf ihren Irrtum aufmerksam machen wollte, die sich aber mit Händen und Füßen gegen Aufklärung wehrten. So erklärte man mir auf meinen Hinweis, daß diese vermeintlich böse Redewendung in einer kreuzwissenschaftlichen Quelle als in den 30er Jahren als Widerstandsform und Parodie auf den Nazipomp entstandene Form erklärt wird, man nehme Informationen aus der Wikipedia grundsätzlich nicht Ernst. Dabei verlinkte ich nicht auf einen Wikipedia-Artikel sondern auf das Zitat der Originalquelle und nicht wie derselbe Twitterer zuvor auf eine obskure Webseite ohne Quellenangaben, in deren Beispielen die unterschiedliche Konnotation von "innerem" und "äußerem" Reichsparteitag sogar ebenfalls vorkommt, aber nicht erklärt wird (wahrscheinlich weil dem Autor des Zitats der Unterschied geläufig ist) und an der eine Ergänzung hängt, die schlicht falsch ist. Und völlig unbelegt.
Ich sammel daher hier jetzt mal ein paar Zitate und Aussagen, die erklären, wie dieser "innere Reichsparteitag" tatsächlich gemeint ist. Nur, damit die Besserwisser im Steinigungsblutrausch hinterher nicht sagen können, es hat ihnen keiner gesagt.
Erstmal die hoffentlich auch bei hyperkritischen Geistern anerkannte Quelle, nämlich der Volkskundler Lutz Rörich in seinem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 5, S. 1682 (Ausg. 1988):
Volksfest: Es ist mir ein Volksfest, ironische Verstärkung der Wendung 'Es ist mir ein Vergnügen', 'Es ist mir angenehm', 'Es freut mich sehr'; ebenso: 'Es ist mir ein innerer Reichsparteitag' oder 'Es ist mir ein innerer Vorbeimarsch', mit parodistischer Beziehung auf die bombastischen Reichsparteitage der Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren aufgekommen. (zit.)
Dann ein paar Zitate von Leuten, die anscheinend noch im richtigen Alter sind, um zu wissen worum es bei dieser Redewendung geht. Gerd Brunzema schreibt z.B. sehr genervt:
(...) Man verspottete damit nämlich den abgrundtief ernst gemeinten Protz, Prunk und Tralala der NS-Parteitage in Nürnberg.
Meine Mama sagt das heute noch. Und die hält sich danach immer den Mund zu. Und zwar nicht, weil sie irgendwas Nazi-verherrlichendes gesagt hätte.
Im Gegenteil.
IM GEGENTEIL, IHR DEPPEN!!!!
Hier ein - aus der Erfahrung des Schicksals dieses schon ignorierten Kommentares wahrscheinlich auch recht fruchtloser - Versuch in Stefan Niggemeiers Artikel Ein innerer Reichsparteitag:
(...) Allein die Kombination "innerer" und "Reichsparteitag" zeigt doch schon, daß es sich um ein ironisches Wort aus dem geistigen Widerstand gegen die Nazis handelt. "Reichsparteitag" war die totale Öffentlichkeit der NSDAP, an der jeder "Volksgenosse" zustimmend teilzunehmen hatte; wer in seinem Innern(!) den RP beging, war eben genau dagegen, hat es aber aus bekannten Gründen 33-45 nicht kundgetan (das konnte die Rübe kosten!). KMH stammt aus Erlangen und hat in Nürnberg gearbeitet – wie die allermeisten heutigen Nürnberger voller Ingrimm auf das historische Nazi-Spektakel (...)
Malte versucht es mit einem passenden Vergleich:
(...) In weiten Teilen meines Bekanntenkreises ist es üblich, jemanden, der mit irrationalem Eifer eine Sache verfolgt, als Lampen-, Hygiene-, Socken- oder Fernseh-Nazi zu bezeichnen. Meine Bekannten verharmlosen damit nicht etwa den Holocaust, ganz im Gegenteil. Genauso ist die Formulierung vom inneren Reichsparteitag eine Form der spöttischen Distanzierung vom Nazi-Jargon, die unter den real existierenden Schweinen einen Besuch der Gestapo nach sich gezogen hätte. (...)
Ja. Es ist wohl offensichtlich, dass der Auslöser hier war, dass Frau Müller-Hohenstein eine Redewendung benutzt hat, die nicht (mehr) jeder kennt (oder vielleicht auch ausserhalb Frankens - wo auch ich herkomme - weniger bekannt ist als auch ich dachte) und dass diejenigen, die sie nicht kennen, ihn falsch verstehen bzw. sogar ins Gegenteil der eigentlichen Bedeutung umkehren.
Allerdings ist das viel größere Problem ein ganz anderes: Daß es so viele Leute gibt, die mit einer sturen Ignoranz, gemischt mit Hysterie und einem ordentlich stinkenden Haufen Selbstgerechtigkeit herumlaufen. Statt mit Hirnen.
Update: Ob der recherchegewohnte Qualitätsjournalismus die Dinge vielleicht richtigstellen ... ach Gott, wie komm ich denn auf diesen abwegigen Gedanken.
20 Kommentare


Was mich aufgeregt hat, war dieses Gelaber von Bela Rethy über die deutschen Tugenden und den Gebürtigen Gelsenkirchener Özil. Als ob das noch irgendetwas mit der Heimat seiner Eltern zu tun hat. Aber bestimmte Eigenschaften müssen ja grundsätzlich genetisch bedingt sein.Das jemand einfach mal gut ist, weil er gut ist, das reicht nicht als Erklärung. Es ist ja schon ein Segen, dass nicht über das Klauen von Bällen von Podolski und Klose geredet wird, und der Schütze zum 4:0 nicht mit dem Schokoladengrundstoff assoziiert wird. Zum Glück hat die deutsche Mannschaft ihre “deutschen Tugenden” mal Tugenden sein lassen,und einfach Fußball gespielt.
Wer sich dagegen über den “inneren Reichsparteitag” aufregt, der soll auch nicht mehr “Stürmer", “Tabellenführer” und “Blitzangriff” sagen.

Was heißt hier missverstanden? Diese Redewendung hat einfach nichts auf der Massenbühne des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu tun und die erste Reaktion des ZDF auf Twitter war einfach nur peinlich. Hysterie, Ignoranz und Selbstgereichtigkeit? Nein, mir geht es eher um Fingerspitzengefühl und Anstand im öffentlichen Sprachgebrauch. Es muss doch klar sein, dass so eine Redewendung in so einem Kontext für Diskussion sorgt. Das ist auch nicht das erste Mal (in der taz wurde in den 1990ern schon einmal so einen Fall beschrieben, ebenfalls ein Fußballspiel). In der Öffentlichkeit gelten nun einmal andere Umgangsformen als in den eigenen vier Wänden.
[Und jetzt bin ich dabei, Kommentare mit Goebbels-Zitaten aus meinem Blog zu löschen … schöne Bescherung]
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]

@Benedikt
> Was heißt hier missverstanden?
Wenn ich von Dir Sachen lese wie hier, oder das da. Oder auch dies, gehe ich davon aus, Du hast geglaubt, daß die Redewendung, die Du da so skandalös findest, einen offiziellen NS-Parteitag als ein positives Ereignis preist und somit Jargon der Nationalsozialisten gewesen sein muss.
Was nicht der Fall ist, sondern das Gegenteil.
Das heißt - zumindest bei mir - “missverstanden".

Bitte korrigiere mich, aber genau das ist doch der Fall. Die Redewendung preist einen offiziellen NS-Parteitag als ein positives Ereignis. Manchmal ohne ironische Brechung, manchmal (von mir aus auch meistens) mit. Genau das sagt zumindest das von dir zitierte Lexikon der Redensarten. Wer etwas Erfahrungen mit Massenmedien hat, weiß, dass man Formulierungen, deren Ironie so leicht missverstanden werden kann, nicht in öffentlichen Anlässen verwenden sollte. Ironie im Zusammenhang mit dem 3. Reich passt vielleicht noch in die Harald Schmidt Show, aber nicht zu einer WM-Übertragung.

@Benedikt:
Genau das ist es, was Jens mit “missverstanden” meint: die Redewendung ist nicht “manchmal ohne ironische Brechung", sie IST entstanden als parodistischer Bezug auf den Nazi-Pomp. Mit Ironie. Grundsätzlich. Punkt.
“Innerer Reichtsparteitag” kannte ich als Redewendung selber auch noch nicht, aber “innerer Vorbeimarsch” war mir vertraut. Egal, ich mag die Ironie in beiden Redewendungen. Aber mir gefällt ja auch der Film “Der große Dikator".

@Benedikt
Sicher, wo kämen wir auch hin, wenn - noch dazu im ÖR! - nicht der kleinste gemeinsame Nenner als Grundlage diente. Bildung, einen Moment innehalten und nachdenken, einfach mal nachschlagen [mindestens 2 unabhängige Quellen]? Auf keinen Fall. “Kenn ick nich’, freet ick nich’, wult ick nich’", das ist die einzig richtige Einstellung!
Ach ja, die Chefredaktion des ZDF findet das ja auch gut, anstatt irgendwo 10 Minuten frei zu schaufeln und kurz zu erläutern, was mit der Phrase gemeint ist, lieber den Schwanz vor dem ungebildeten Mob einziehen und sich für, ja, für was eigentlich, Nichts entschuldigen. WELT [Online] geht noch einen Schritt weiter, die holen erst die ganz große Nazi-Kanone raus, schießen kräftiges Sperrfeuer auf einen Sport-Spatz, und als jemand denen erklärt, was eigentlich los ist, entschuldigen die sich nicht für ihren Quark. Stattdessen wird wieder geschossen, immer noch mit Kanonen auf Spatzen, diesmal, weil da ein Ausdruck verwendet wurde, der nicht jedem geläufig ist.
Na ja, ich vermute mal, die Arithmetik wird demnächst geändert, da ja auch die Todeszüge der Reichsbahn [rechtlicher Nachfolger: Deutsche Bundesbahn->Die Bahn] ihre Kapazitäten nach 2+2 = 4 berechneten.
PS: Versuch mal auf ZEIT.de den Fall Noam in Laucha zu finden. Lies, heule und mach’ dir klar, wie echter alltäglicher Faschismus aussieht.

@Benedikt: Du hast aber, bevor du so überzeugt die positive Glorifizierung von RPTagen durch diese Redewendung verkündetest, den obigen Artikel und seine Zitate (inklusive der Verwunderung darüber, dass es offensichtlich wenig nützt, wenn man Leuten sagt, wie’s wirklich ist, weil die sowas geflissentlich ignorieren) gelesen? Ich frag’ nur mal…
Kommentar von: Benedikt Köhler [Besucher]

@Thorsten Ich bin mir da einfach nicht sicher. Ich bin zu spät geboren, um mit Sicherheit sagen zu können, ob die Wendung mit ironischer Brechung verwendet wurde oder nicht. Jörg verlinkt in seinem Blog Quellen, die das in Frage stellen: http://marx-blog.de/2010/06/ein-reichsparteitagsmaerchen/
Ein Historiker würde hier zu dem Urteil kommen: Die Faktenlage ist zu dünn, es liegt nicht ein einziges schriftliches Zeugnis vor.
Aber ganz unabhängig davon ist doch eins unstrittig: Die Redewendung ist missverständlich. Lass es nur 10% der 28 Millionen, die eingeschaltet waren missverstehen, das sind dann 2,8 Millionen, die ein ganz komisches Gefühl haben (wobei ich denke, dass es sehr viel mehr waren). Das muss ein Sender, der für sich beansprucht, für die Breitenversorgung zuständig zu sein, ernst nehmen und darauf reagieren. “That’s it” strahlt für mich nicht unbedingt aus, dass man hier wirklich auf das Publikum eingegangen ist.
@Sven Klar, habe ich deinen Text gelesen, was mir aufgrund der ganzen Beleidigungen und Kraftausdrücke nicht besonders leicht gefallen ist. Muss das sein?

Danke Jens, für den Beitrag. Großartig, mit IQ und Wut - spricht aus mir!
@Benedikt:
Es ist unfassbar, dass und was diese “Generation Doof”
(ein schaurig- schönes Beispiel!) beim surfen, twittern und wählen so alles anstellen kann, darf und…
sich nicht mal dafür zu entschuldigen braucht.
Weil: sie hat´s ja nicht gelesen, nicht verstanden…!
(sonst würde hier jemand doch nicht noch gegen sich selbst nachtreten…!)
Bene, völlig IQ-befreit?
TF
Kommentar von: José Pereira [Besucher]

Ich bin portugieser und war tatsächlich empört über den Satz aber nach dieser wunderschöne Erklärung muß ich zugeben dass ich falsch lag.
Danke für die Erklärung.
Kommentar von: F [Besucher]

ich glaub, Doris Lessing hat zu dem Thema vor 30 Jahren schon mal ein Buch geschrieben (Die sentimentalen Agenten im Reich Volyen) *Kopfschüttel*
Kommentar von: Hausmann [Besucher]

Aus DDR Zeiten ist mir diese Redewendung nicht bekannt, aber eine recht ähnliche, vermutlich abgewandelte: “Innerer Parteitag” oder “innerer Vorbeimarsch".
mfG

Aha und hier halten sich also diejenigen auf, die NICHT die Vollidioten des Internet sind. Hochinteressant! Ja ich weiß: Immer nur die Anderen… und immer noch etwas vollidiotischer als alle anderen.
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]

@ouwou…usw.:
jeder darf das gerne sehen wie er will.

Es ist da nichts misszuverstehen! Es wird so verstanden, wie es zu verstehen ist. Der eine versteht’s so, der andere so. Auch die Bergpredigt, das Kommunistische Manifest und überhaupt jeder Begriff kann so und so verstanden werden. Den Vorwurf etwas missverstanden zu haben, kann man jeweils auch zurückgeben. Dass die Redewendung “innerer Reichsparteitag” damals möglicherweise oder tatsächlicherweise eine regimekritische Bedeutung hatte, ist heute scheißegal. Heute ist relevant, wie es heute verstanden wird und heute wird es eben so (richtig?) oder so(falsch?) verstanden. Wegen der Missverständlichkeit ist die heutige Verwendung dieser Redewendung (Im TV, vor Millionenpublikum und bei größter Einschaltquote) deshalb eben problematisch. Das ist alles.
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]

ja, gerne. hab auch nichts gegen auch eine diskussion darüber. allerdings hatte ich im moment des verfassens dieses artikels nicht das gefühl, daß bei den hysterischen “die muss sofort aus dem sender geschmissen werden!” - schreihälsen auch nur ein deut reflektionsfähigkeit anzutreffen war - ein exemplarisches beispiel dafür hab ich ja extra beschrieben. ich halte ja niemanden für einen vollidioten, der über die problematik der nutzung eines begriffes dikutiert, dessen bedeutung zweideutig geworden ist, weil die eigentliche nicht mehr geläufig ist. ich denke auch, daß es besser ist, diese redewendung möglichst zu vermeiden, aus den von dir genannten gründen. das ist aber nicht, was ich hier kritisierte.

OK. Ich habe mich nur geärgert, weil hier ein Blogger die Kommentatoren eines anderen Blogs pauschal als Vollidioten(dein letzter Eintrag im Niggemeier-Blog) bezeichnet. Das war nicht gerade die feine, elegante Art.
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]

Das ist gar kein Eintrag von mir, sondern nur der automatisch erzeugte Trackback, weil ich seinen Artikel hier verlinkt habe. Hat mit den Kommentaren auch gar nichts zu tun.
Kommentar von: Hanna [Besucher]

grundsätzlich wird immer wild rum schwadroniert wenn auch nur
ein Pups losgeht - wird mal wieder Zeit für einen Oberdada ^^
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Stimmt, die Renitenz gegenüber Fakten und Aufklärung gerade in den Kommentarspalten [siehe Niggemeier und den oben verlinkten ‘viralmythen’] ist das eigentlich erschreckende des Vorfalls. Selbst wer den Auspruch nicht kennt - als eben die ironische Formel, die jene Glanz-und-Gloria-Kasper als lächerliche Figuren vorführen wollte -, sollte doch rein sprachlich stutzen, ob des eher unpassenden Adjektivs. Nur wenige Gedanken weiter wäre klar, dass es hier um etwas Anderes geht.
Sehr schön auch, wie erst auf den ‘Reichsparteitag’ und seine angebliche Bedeutung als Nazi-Treffen in Nürnberg abgehoben wird, im Moment da allerdings andere Bedeutungen genannt werden, die Ebene der Fakten gar keine Rolle mehr spielt. ‘Darauf komt’s doch gar nicht an’ wird dann formuliert, nicht die Denotation spielt eine Rolle, sondern nur noch irgendeine vage Konnotation, die so ein ungebilderter Laffe beim Sofasport hat. Egal wie falsch es ist, das Bauchgefühl triumphiert über den Verstand.
Und diese Heinis sind auch noch wahrhaft stolz über ihre Borniertheit.