eingetragen am Mär 2, 2018 von jensscholz in .. bloggen
Der Tod ist offenbar doch ein wesentlich heikleres Thema als ich dachte. Ich hatte jedenfalls - nachdem wir letztes Jahr aus Anlass der ersten re:publica nach Johannes Tod eine eher spontane Erinnerungsecke aufgebaut hatten - signalisiert bekommen, eine Initiative zum Thema Erinnerungskultur würde begrüßt. Daher reichte ich das Thema für uns (uns sind Wibke, Nadja und ich) als Session ein:
Short thesis Die re:publica greift seit Jahren nicht nur aktuelle gesellschaftliche Themen auf, sondern hat auch bewusst eine Netzkultur und ein Gemeinschaftsempfinden geschaffen, das sie von anderen Fach- und Branchenkonferenzen unterscheidet. Ein wichtiger Aspekt jeder Gemeinschaft und jeder lebendigen Kultur ist der Umgang mit dem Tod. Erinnern wir uns an diejenigen, die wir verloren haben? Es wird Zeit, uns darum zu kümmern, diesen Teil des Lebens auch in unsere vornehmlich digitalen Kultur zu integrieren.
Description Der Tod gehört zu den existenziellen Themen, ohne die es keine lebendige Kultur geben kann. Auch keine digitale, denn wenn wir in den über zehn Jahren re:publica etwas gelernt haben: Es gibt keine Trennung zwischen "echter" und digitaler Welt.
Der Zusammenhalt und die Familiarität, die Herzlichkeit und das subversive Augenzwinkern ist, trotz aller kritikwürdigen Dinge, Fehler, Schwierigkeiten, Dissonanzen, die im Laufe der Jahre nicht ausblieben, so fest in der DNA der re:publica verankert, dass jedes Jahr selbst ganz neue Besucherinnen und Besucher spüren, dass hier eine ganz andere Atmosphäre herrscht als auf anderen Konferenzen.
Diese DNA der re:publica hat uns, die Menschen, die die Welt irgendwie besser machen wollen, im Mittelpunkt. Wir meinen, dass die re:publica als große Gemeinschaft diese besondere Kultur geschaffen hat und wir glauben, dass es wichtig ist, dass diese Kultur weiter getragen wird. Das geht aber nur, wenn wir unsere Geister nicht vergessen: die Menschen, die Teil dieser Gemeinschaft waren und inzwischen nur noch als Erinnerung unter uns wandeln.
Wenn wir in unserer Kultur in Zukunft auch Trauer, Erinnerung und Freude darüber zulassen, so wunderbare Menschen gekannt zu haben, dass sie uns fehlen wenn sie fort sind, wird diese Kultur reicher, gehaltvoller und substanzieller und wir werden uns damit die Sicherheit geben, dass die re:publica nicht vergessen wird, wo sie herkommt.
Daher wollen wir darüber reden, wie wir eine Erinnerungskultur in eine sehr digitale Gesellschaft bringen, die momentan noch sehr im hier und jetzt lebt und noch zu wenig an eine Zukunft denkt, in der immer mehr von uns verschwinden und uns neue Generationen nachfolgen. Wo ist der Platz für unsere Toten, wie leben ihre Ideen weiter? Aber auch: Wie können wir Angehörigen helfen, wenn nötig? Wie organisieren wir Möglichkeiten zu persönlicher Trauer und Erinnerung? Wie verhindern wir digitales Vergessen? Wie bereit sind wir selbst, uns mit dieser Thematik ernsthaft auseinanderzusetzen?
Heute kam die Mail, dass die Session nicht angenommen wurde*, was mich doch etwas überraschte. Ich bin aber - das sei erst mal klargestellt - erstens überhaupt nicht böse über die Absage und ich fahre zweitens natürlich auf jeden Fall hin und ich verfolge dort drittens auch weiterhin das Thema, ob nun mit "offiziellem" Slot oder nicht. Ein bisschen traurig bin ich natürlich schon, aber ich nehme das nicht persönlich weil ich weiß, dass Dinge passieren und Themen mal passen und mal halt grade nicht so gut. Vielleicht gibt es ja auch eine andere Einreichung, die in dieselbe Richtung geht. Das würde mich freuen und dann würde ich auch versuchen, mich eben dort mit einzubringen.
(* Update: die Session ist doch noch zustande gekommen. Man dachte wohl im ersten Moment, es ginge um das Thema "digitaler Nachlass", das letztes Jahr schon vorgestellt wurde. Danke fürs Klären an Markus.)
Mir ist das Thema aber aus verschiedenen Gründen wichtig und die will ich besprechen:
Unsere kleine digitale Gesellschaft hier in Deutschland, der ich mich zugehörig fühle, kommt in ein Alter, in dem der Tod zum ständigen Begleiter wird. Wibke meinte heute auf Facebook, in der Popkultur - das diesjährige Motto der re:publica - geht es um Liebe und Tod. Das stimmt auch, aber Pop sieht den Tod aus einer Warte, in der er weit weg ist. Eine Warte, in der er mit Romantik verbunden ist, nicht mit der banalen oder auch grausamen Gegenwart. Pop beschäftigt sich mit dem Tod zwar emotional, aber eben auch verklärt: Es geht dort nicht um den realen Verlust von realen Menschen. Der Tod ist in der Popkultur nur ein Symbol. Worum es uns geht ist nicht das, worum es in der Zeile "I would die for you" geht, die Brian Adams in einem Liebeslied singt um seiner Angebeteten zu erklären, wie groß seine Liebe ist.
Wir kommen alle früher als wir glauben in ein Alter, in dem der Tod den Schleier der Romantik ablegt. Ich werde dieses Jahr 50 und seit ein, zwei Jahren sterben Menschen, die mir nahe stehen, mit denen ich gearbeitet habe oder mit denen ich in der Schule war und das wird ab jetzt mehr werden und nicht weniger. Und eventuell bin ich auch angezählt und weiß es nur noch nicht, ich bin mir aber auf jeden Fall bewusst darüber, dass der weit längere Teil meines Lebens hinter mir liegt und nicht vor mir.
Ich würde mich daher freuen, mit Menschen darüber zu reden, wie wir mit dem Thema Tod umgehen wollen. Rein praktisch, aber auch emotional und kulturell. Ich glaube, dass es an der Zeitt ist, dass es hilfreich ist und dass es uns weiterbringt. Ich würde gerne über Möglichkeiten der gemeinsamen Erinnerung reden und darüber, ob und wie wir ganz konkret Hinterbliebenen helfen können, auch finanziell oder organisatorisch.
Ich werde die re:publica und euch auch ohne Session darauf ansprechen und freue mich, wenn ihr mich darauf ansprecht. Vielleicht bekommen wir ja eine Initiative auf die Beine gestellt und vielleicht können wir die dann im nächsten Jahr vorstellen.
Letztens hab ich drüber geschrieben, wie sich Eigenschaften, die mir früher Schwierigkeiten gemacht haben, heute als hilfreich erweisen. Dabei war mir eine weitere eingefallen, die ich nicht in den Artikel aufgenommen habe, weil ich nicht weiß, ob das eine gute oder eine schlechte Eigenschaft ist. Wahrscheinlich weder noch und auch ob sie irgendwie hilfreich ist, weiß ich nicht. Es ist halt einfach so.
Es geht darum, wie ich darauf reagiere, wenn es so laut wird, dass ich selbst auch nur noch laut herumbrüllen müsste, um mich noch verständlich zu machen: Das tue ich im Normalfall nicht, sondern ich gehe weg. Auf der rein physischen Ebene ist das die Situation in der Kneipe, in der man sich eigentlich gut unterhält. Dann aber glaubt jemand, dass es jetzt wirklich an der Zeit sei, die Musik doppelt so laut aufzudrehen, was dazu führt, dass alle, die gerade miteinander reden, anfangen müssen, sich anzuschreien. Was wiederum dazu führt, dass nicht nur laute Musik läuft, sondern ein massiver, durchgehender Geräuschteppich aus lauten Stimmen entsteht.
Das ist der Moment, an dem ich gehe. Oder wenn ich grade nicht gehen kann oder will, nichts mehr sage - ich höre ja eh nichts mehr sinnvolles ausser der ununterbrochenen Geräuschbrandung.
Warum erzähle ich das, außer dass es halt eine Verhaltensweise beschreibt, von der ich ausgehe, dass sie nicht so selten ist? Naja, ich beobachte ja auch, wie sich verändert, was, wie, wann, wohin und warum ich ins Internet schreibe. Und natürlich fällt mir auf, dass ich früher mehrmals am Tag Dinge ins Blog schrieb, mir viel mehr öffentlich Gedanken über tagesaktuelle Themen machte (oder zu manchen schien) und trotz dessen, dass ich mehr schrieb, alles viel plauderhafter gewesen ist.
Natürlich hat sich einiges von dem, was ich früher ins Blog geworfen habe, auf Twitter und Facebook und sonst wo hin verschoben. Aber auch dort schreibe ich ja inzwischen wesentlich weniger als noch vor ein paar Jahren. Und das geht grade nirgendwo anders hin, jedenfalls nirgendwo, wo man öffentlich was davon sieht. Allerdings: Das Plaudern, das ist wieder da, spielt sich aber komplett in einem anderen Format ab, nämlich drüben im Podcast. Da rede ich mit meinem Bruder oder mit Jan und das klappt wunderbar, weil da muss ich ja nicht laut sein oder die Umgebung übertönen. Und schon kann ich wieder reden.
Aber auf Twitter und Facebook halte ich inzwischen - im Vergleich zu früher - immer mehr die Klappe. Facebook ist immer noch gut, um ein bisschen seine Veranstaltungen zu koordinieren und mit den FreundInnen im lockeren Kontakt zu sein, aber es erinnert mich seit ein zwei Jahren an die Kneipe mit der zu lauten Musik und den Leuten, die sich glauben, anschreien zu müssen, damit sie sich gegenseitig noch hören können.
Natürlich schaute ich mir an, ob ich mich vielleicht insgesamt nicht mehr so viel mit Themen beschäftige, die mir mal so wichtig waren, dass ich Blogs und Social Media damit vollgeschrieben habe und stellte fest, dass das nicht stimmt. Ich schreibe nur nicht mehr drüber. Aber ich rede wieder mehr. Es ist, als ob ich vor 20 Jahren zum Reden ins Internet gegangen bin, weil ich Schwierigkeiten hatte, mit diesen lauten Menschen zu kommunizieren und jetzt gehe ich wieder zu den Menschen zurück, weil mir das Internet zu laut geworden ist.
Ich rede nicht weniger über Politik, Kultur, Musik, Gesellschaft und Stuff. Aber ich schreibe das nicht mehr "für alle" auf, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, dass das gelesen wird. Es ist zu leise, zu unspektakulär, nicht laut genug dafür, im momentanen Geräuschpegel des Internets wahrgenommen zu werden. Und anfangen zu brüllen werde ich hier genausowenig wie in zu lauten Kneipen. Ich schreibe keine Rants, ich mag nicht polarisieren, ich greife niemanden persönlich an, nur um dadurch die Spannung zwischen ihm und anderen zur Steigerung der Aufmerksamkeit zu nutzen. Deswegen hab ich auch keine Awards, nehme ich an, und find ich auch ok, weil Preise natürlich keine Anwesenheitsnote sind. Es ist allerdings nicht etwa so, dass ich nicht weiß wie es geht. Ich weiß ja auch, wie man in einen lauten Raum brüllt. Ich hab nur keine Lust dazu.
Da gehn wir lieber mal vor die Tür zum Quatschen, aber eben nur wir beide.
Irgendwie passt es ja, dass dieses Jahr der Mittelteil der neuen Star Wars Trilogie herausgekommen ist. Denn irgendwie fühlt sich dieses Jahr auch so an, als ob ich in einem Mittelteil eines Filmes mitgespielt hätte. Nachdem zunächst alles wirklich gut lief, kam ich ins Zweifeln, ergriff eine Gelegenheit, wieder in mein altes Leben zurückzukehren und stellte dann fest: Da geht es nicht zurück. Mehr noch: Ich will gar nicht mehr zurück. In der typischen westlichen Filmplot-Struktur ist das der 2. Akt: Der hört damit auf, dass der Hauptcharakter des Films einnen Rückzug macht und dabei natürlich scheitert, denn das ist die Stelle, an der er bemerkt, dass er die wichtige Entscheidung schon längst getroffen hat.
Insgesamt war das Jahr eigentlich eins der schönen Jahre: Es gab einen wunderbaren Urlaub, ich war auf coolen LARPs, ich habe wunderbare Freundinnen und Freunde mit denen ich schöne Dinge mache (zB auch einen inzwischen gut und regelmäßig laufenden Podcast, etwas, was ich seit Jahren haben wollte). Aber da über allem so ein bisschen das Gefühl schwebte, insgesamt in eine verkehrte Richtung zu laufen, war ich viel mehr genervt, besorgt und schlecht gelaunt als ich hätte sein müssen. Dafür maßgeblich verantwortlich war meine Entscheidung, mich noch mal anstellen zu lassen. Nicht falsch verstehen: Die Firma war top und die KollegInnen super. Aber es passte einfach nicht. Das passiert, wir waren uns darüber auch beidseitig einig und ich überlegte, warum es nicht passte. Der Grund war, wie ich mit dem Plot-Gleichnis versucht habe, zu bebildern: Ich bin eigentlich schon auf dem Weg ganz woanders hin, auch wenn ich das Anfang des Jahres noch gar nicht wusste, als ich die Vorstellungsgespräche hatte. Natürlich ist es müßig, sich darüber zu ärgern, aber so ein bisschen tu ich es doch, denn diese vier Monate haben mich mehr als nur aufgehalten. Sie haben mich zurückgeworfen und ich bin jetzt sehr darauf aus, diesen Setback wieder aufzuholen.
Zugenommen oder abgenommen? Gleich geblieben, meine ich.
Haare länger oder kürzer? Auch gleich geblieben.
Kurzsichtiger oder weitsichtiger? Jaja, auch gleich geblieben.
Mehr bewegt oder weniger? Weniger und dazu leider ungesünder. Dafür weiß ich jetzt, dass Laufen definitiv nicht meins ist, wenn ich nicht 2 Wochen lang Schmerzen im Knie haben will.
Mehr Kohle oder weniger? Weniger. Der Ausflug ins Angestelltenverhältnis hat mich auch finanziell ein gutes Jahr zurückgeworfen.
Mehr ausgegeben oder weniger? Mehr, weil dieses Jahr eine Woche Urlaub dran war. Eine Woche! So lange war ich seit 2007 nicht mehr weg.
Der hirnrissigste Plan? Mich noch mal anstellen zu lassen. Erstaunlich, wie man nach nur einem guten Jahr Selbständigkeit merkt, wie eingeschränkt man in einer Firma ist.
Die gefährlichste Unternehmung? Gefährlich war dieses Jahr zum Glück nichts. Ein gewisses Risiko war es wohl, aus dem Job wieder ins Freelancertum zurückzugehen ohne Reserven und erste Aufträge. Ich hab das mit Einparken bei Vollgas verglichen. Ich wusste aber, dass länger warten alles nur noch schwieriger machen würde.
Der beste Sex? Ich kann nicht klagen.
Die teuerste Anschaffung? Eine Steuerberaterin.
Das leckerste Essen? Fisch in Irland.
Das beeindruckendste Buch? Ich habe dieses Jahr zwar wieder etwas mehr gelesen, aber tatsächlich eher alte Bücher, die ich in meiner Jugend gelesen habe, wie zum Beispiel Robert Heinleins 'Die Katze, die durch Wände geht'.
Der ergreifendste Film? The Last Jedi. Eventuell gar nicht so sehr wegen der Story, die ist halt typisch Star Wars - inklusive der üblichen Plotholes und Zufälle (meine Güte, nach acht Filmen sollten die Leute sich doch dran gewöhnt haben und wenn nicht, warum schauen sie sie dann trotzdem immer wieder?). Nein, wegen Carrie Fisher. Ich habe jede einzelne Szene mit ihr geliebt und der musikalische Tribut am Ende war hart, weil er klar machte, dass man sie jetzt nie wieder in einem neune Film sehen wird. Always my Princess, always my General.
Das schönste Konzert? Dieses Jahr war das erste Jahr seit sehr langer Zeit, in dem ich auf keinem Konzert war. Das muss 2018 anders werden.
Die meiste Zeit verbracht mit...? Gefühlt dem Zahnarzt. Ich hab mir mit einem Körnerbrot ein Stück Backenzahn abgebrochen und war danach fünf Mal beim Zahnarzt, weil der natürlich zig andere Sachen gefunden und behandelt hat. Ja, musste auch alles sein.
Die schönste Zeit verbracht damit...? Auch dieses Jahr: Babysitten. Eine Woche Luna auf dem Conquest betreuen.
Vorherrschendes Gefühl 2017? Anspannung. Erst wegen des Jobs, dann weil der Job nicht das richtige war, dann weil ich bei Vollgas einparken muss (was immer noch im Gange ist).
2017 zum ersten Mal getan? In der Probezeit die Firma verlassen. Auf einer Bühne Klavier gespielt und gesungen.
2017 nach langer Zeit wieder getan? Ich glaube nicht, dass ich dieses Jahr irgendwas gemacht habe, was ich lange Zeit nicht getan habe. Vielleicht "an die Schulzeit denken", da vor einigen Wochen eine Klassenkameradin verstorben ist und wir das zum Anlass nahmen, ein paar alte Fotos herauszukramen und zu teilen.
3 Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen? 1. Meinem Bauchgefühl nicht getraut zu haben und einen Job anzunehmen, der nicht der richtige war. 2. Zahnarzt. 3. Dass Netflix Sense8 absetzte.
Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte? Dass Erinnerung wichtig ist.
Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat? Ein unerwartetes Kompliment an Karneval.
Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat? Besagtes Kompliment.
Heute schreibe ich mal wieder so wie bloggen früher war: Ein bisschen Nabelschau und Selbstreflexion, ein bisschen was über früher und heute.
Ich schreibe ja schon seit jeher viel auf - vor allem in Tagebüchern und Kalendern - und beim Herumblättern fand ich einige Themen, mit denen ich früher extrem viel gekämpft habe, die mich heute aber nicht mehr in Schwierigkeiten bringen (täten sie das immer noch, würde ich wahrscheinlich nicht darüber bloggen). Bei der Überlegung, was sich geändert hat, habe ich bemerkt, dass viele Eigenschaften, die früher für Probleme gesorgt haben, heute noch da sind, aber dass ich sie anders nutze. Drei davon hab ich für diesen Eintrag mal herausgegriffen:
1. Aversion gegen Wiederholungen
Das war diese eine Eigenschaft, die mich am längsten schlechter leben ließ: In der zweiten Klasse fiel meine Begeisterung für die Schule rapide ab, nachdem unsere Lehrerin ständig Diktate ansetzte und das schulische lernen, das ja vor allem auswendig lernen war, ist für mich fast körperlich schmerzhaft gewesen. Hausaufgaben habe ich selten gemacht, weil ich mich einfach nicht dazu durchringen konnte, Dinge, die im Unterricht schon mal besprochen und geübt wurden, stupide mit immer weiteren Varianten zu wiederholen. Ich habe nach dem Zivildienst im Krankenhaus gearbeitet und musste irgendwann aufhören, weil ich mich schon bei der Hinfahrt in einer verzweifelten Stimmung befand ob der Aussicht, jetzt einen ganzen Tag lang Dinge zu tun, die ich schon tausend mal gemacht habe. Ich würde (auch heute noch) auf keinen Fall irgendwo hin umziehen, wo ich schon mal gewohnt habe, weil ich das als schrecklichen Rückschritt empfinden würde.
Mit fortschreitendem Alter jedoch konnte ich feststellen, dass diese Aversion mir extrem zu Gute kommt. Da ich dieser schmerzhafte Repetitivität, die es nun mal hier und da immer gibt und geben wird, mit der Aufnahme von möglichst vielen Informationen entgegenwirke, bin ich immer über sehr viele Themen gut bis halbwegs gut informiert. Das schöne daran, dass ich das seit nunmehr Jahrzehnten tue ist, dass ich Entwicklungen und Prozesse nachvollziehen und erklären kann, von denen viele andere Menschen nur Bruchstücke kennen - ich habe völlig aus Versehen eine gut funktionierende Kontextdatenbank im Kopf und möchte gerne, dass sich alles immer weiterentwickelt, verbessert und voran kommt.
Der andere - noch viel wichtigere - Vorteil ist, dass ich mit fast 50 Jahren keine Angst vor Veränderung habe. Im Gegenteil, mir geht es gerade gar nicht schnell genug, ich ärgere mich über so viel Stillstand an Stellen, an denen eigentlich dringend was getan werden muss. Ich fühle mich so beweglich wie nie zuvor, auch weil ich aus dem eben erwähnten gesammelten und ständig aktualisierten und erweiterten Wissen die Sicherheit spüre, dass ich gut genug Bescheid weiß, um nicht nur mithalten zu können sondern sogar vieles von dem zu pushen, was mir wichtig erscheint. Es kommt nicht vor, dass ich wegen Veränderungen jammere oder auf die Bremse trete und ich denke, dass das auch den Beziehungen zu Gute kommt, die ich hatte und habe.
2. Gelassenheit
Wie kann das eine Eigenschaft sein, die einem Probleme macht? Nun, wenn man sie nicht erkennt und kanalisiert, hat man einen Menschen, der sich anscheinend über nichts richtig freut, der nie total überrascht ist, der anscheinend keinen Enthusiasmus zeigen kann und der viel zu spät "Oh, das freut mich." sagt, als dass das noch als spontane Reaktion rüberkommt und nicht als Pflichtschuldigkeit. Und es stimmt, ich war sehr lange nicht besonders gut darin, Begeisterung (oder andere Überschwänglichkeiten) zu zeigen, selbst wenn ich sie verspürt habe. Was das angeht, habe ich aber inzwischen Ausdrucksformen gelernt und nutze sie auch - ich würde mal sagen, dass das heute niemand mehr mit Interesselosigkeit oder Gefühlskälte verwechselt.
Das liegt auch daran, dass ich bei der Beschäftigung mit dieser Eigenschaft erkannt habe, dass meine Zurückhaltung auch gute Seiten hat und nicht nur mir, sondern auch anderen sehr helfen kann, denn sie bewirkt ein hohes Maß an sehr beruhigender Akzeptanz: Ich weiß, dass vieles schwierig ist. Ich habe einige Dinge, die mir täglich Sorgen machen. Ich habe Freundinnen und Freunde, denen es genauso oder zuweilen auch noch schlechter geht und es gibt diesen Punkt, an dem Angst und Panik überhand nehmen. Das passiert dann, wenn es immer wieder ein neues Problem gibt, nie ein Problem alleine auftaucht und weil es zuweilen wirklich haarig wird, wenn schon wieder neue Schwierigkeiten kommen, während man noch dabei ist, andere zu lösen oder mit ihnen klar zu kommen.
Meine Erfahrung nach nunmehr 49 Jahren ist: Dass es immer wieder neue Probleme gibt wird sich nie ändern. Das ist offensichtlich das Leben wie es ist. Diese Erkenntnis führte allerdings nicht dazu, zu verzweifeln, sondern dazu, es zu akzeptieren und das wiederum führte dazu, dass ich in meinen besten Momenten lächelnd im Chaos stehe und in Ruhe ein Problem nach dem anderen löse. Erst das wichtigste, dann die, die ich lösen kann. Und dann mache ich mir vielleicht mal Gedanken über die, die ich nicht lösen kann. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, ich habe nie Panik oder Ängste, aber ich kann sagen, dass Panik und Ängste mir nie dabei geholfen haben, Probleme zu lösen. Gelassenheit aber schon.
3. Introvertiertheit
Wenn ich diese Myers-Briggs Tests machen muss, kommt immer INTJ raus und mein Exchef wunderte sich darüber, weil er mich überhaupt nicht als "Introvertiert" eingestuft hat. Wegen Eigenschaft 1 konnte ich ihm erklären, dass es sich bei solchen Tests nicht um Persönlichkeitsprofile handelt und daher nicht das Verhalten bestimmt wird - das I und E in der Skala zeigt nur an, ob Interaktionen anregen oder stressen - und mich stressen sie. Nichtsdestotrotz mag ich sie inzwischen, weil ich mit der Zeit darin immer besser wurde und mein Beruf basiert inzwischen darauf, da mich der ständige bewusste Umgang damit und die damit lange Übung zu einem guten Beobachter und Berater gemacht hat.
Auch eins meiner wichtigsten Hobbies - das LARP - basiert darauf, sogar noch viel weitgehender als mein Beruf, denn im LARP geht es zum Teil darum, Extremsituationen zu provozieren und zu erfahren, was man im echten Leben niemals tun würde (was, wie ich gerade merke, eine Erweiterung der ersten Eigenschaft ist, denn mit der Zeit wiederholen sich natürlich auch emotionale Situationen).
Da sowas aber immer noch schnell meinen Energiehaushalt erschöpfen kann, habe ich gelernt, regelmäßig auf die Einhaltung von Abstand zu achten. Ich nutze dafür viele Auszeiten aber auch zum Beispiel diese Technik, die auch bestimmt in irgendwelchen Lebensratgebern beschrieben ist und bestimmt einen fancy Namen hat: Wenn ich merke, dass ich mit einer Situation nicht klar zu kommen drohe - ob im Kleinen, wie der typische sensory overload auf einer Veranstaltung oder im Großen, wie ungefähr das ganze Jahr 2015 - setze ich mich eine halbe Stunde hin und entkoppele mich von allem. Ich atme regelmäßig und tief, entspanne den Körper und stelle mir vor, alles um mich herum entfernt sich von mir. Alles wird leiser und kleiner und ist nur noch am Horizont sichtbar. Ich habe nichts mehr damit zu tun. Dann stelle ich mir vor, die ganze Erde, auf der all diese Dinge ohnehin schon weit weg von mir sind, entfernt sich von mir (oder ich mich von ihr), bis auch die nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne ist.
Dann habe ich nur noch mich und kann mich spüren. Es geht überhaupt nicht darum, Entscheidungen zu treffen, wichtige Überlegungen anzustellen oder sonst was zu erreichen. Es geht ausschließlich darum, dass ich merke, dass ich noch da bin. Dass es mich gibt. Wie ich und nur ich mich anfühle, ohne die ganzen Reflexionen von außen. Wenn ich mich lange genug (und das lange genug wirklich abzuwarten ist wichtig) wieder wahrgenommen habe, lasse ich mich wieder zur Erde absinken und ziehe den leeren Raum zwischen mir und meiner Umgebung wieder zurück. Dann öffne ich die Augen und gehe zurück in die Situation, aus der ich mich gerade zurückgezogen habe und etwas interessantes passiert: Ich bin konzentriert und voll anwesend, habe ein klares Bild davon, was passiert und kann vernünftig und ruhig darin agieren und reagieren.
Ich hab noch nie eine Blogparade mitgemacht. Nicht, weil ich das Prinzip nicht mag, sondern weil mich bisher kein Thema so angesprochen hat, dass ich dazu dringend etwas beitragen wollte (oder weil ich zu wenig Ahnung darüber habe und die Teilnehmer schon alles viel besser aufgeschrieben haben, was ich hätte beitragen können). Nun aber gibt es eine, die ich unterstützen möchte und die mir persönlich sehr wichtig ist, aus Gründen, die ich vor einer Weile beschrieben habe.
Auch, wenn wir es meist verdrängen: Wir alle werden sterben. Irgendwann, aber dass wir sterben ist sicher.
Testamente und gesetzliche Regelungen zur Verwaltung des physischen Nachlasses gibt es reichlich, aber was ist mit unserem digitalen Nachlass? Mit Blogs, Facebook- und Twitterprofilen oder dem Instagramstream? Sogar die Bundesregierung empfiehlt, Vorsorge zu treffen, aber wie sollen Angehörige oder Erben mit unserem Nachlass umgehen – und wie ermögliche ich ihnen das?
Was für Konventionen bei Todesfällen wünschen wir uns überhaupt? Welche Mechanismen sollen oder sollten Soziale Netzwerke zur Verfügung stellen?
Auf Digital Danach existiert bereits ein Blog zum Thema und auf der re:publica haben Jens Scholz und Wibke Ladwig spontan eine Aktion “re:member” ins Leben gerufen.
Das Digitale Leben nach dem physischen Tod ist ein Thema, bei dem viele Fragen noch gar nicht gestellt sind.
Aber nicht nur die Frage, wie wir digital mit unserem eigenen Tod umgehen, ist wichtig. Es sterben ja auch Verwandte, Freunde, Bekannte. Wie funktioniert digitales Gedenken für die Hinterbliebenen?
Wir – das sind Jens Scholz und ich – laden Euch ein, über Eure Wünsche, Gedanken, Ängste und Erlebnisse zum Thema “Tod und Soziale Medien” zu bloggen und auf diese Weise eine Sammlung von Texten zu verlinken.
Ich würde mich sehr freuen, wenn hier viele Beiträge zusammenkämen. Ich habe vor, nächstes Jahr auf der re:publica ein paar Ideen und Konzepte vorzustellen, wie wir mit Tod und Trauer umgehen können, sei es digital oder auf Veranstaltungen, in denen sich jedes Jahr Menschen treffen, die bemerken, dass einige von ihnen nicht mehr da sind. Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam ein paar gute Impulse zusammenbekommen, wie wir das anfangen können.
Ab Morgen bin ich wieder angestellt. Komisches Gefühl, aber die neuen KollegInnen haben mir eine Postkarte geschickt, in der sie mich baten, doch bitte nicht vor halb zehn im Büro aufzuschlagen, wenn ich an meinem ersten Arbeitstag nicht auch der erste im Büro sein will und das fand ich schon wieder sehr herzig. Ach ja, wer wissen will, wo ich eigentlich bin und was ich da mache, das aktualisiere ich alles morgen.
Ansonsten war der Mai tatsächlich sehr voll: Natürlich zuallererst wegen der re:publica, über die hab ich aber schon geschrieben.
Dann waren wir im Urlaub. So richtig Urlaub. Eine ganze Woche weg, in Irland mit wandern und Sachen anschauen und gut essen und gemütlich herumsitzen und lesen und all dem, was man in einem Urlaub so macht. Ich glaube, das sollte ich öfter machen. Das letzte mal, dass ich eine ganze Woche irgendwohin bin und Urlaub gemacht habe, war erschreckenderweise im März 2006.
Wir waren vor allem im Nordwesten, die Wild Antlantic West Road entlang. Der name ist auch nicht schlecht gewählt, denn es hat ordentlich gezogen und war auch nicht wirklich warm - was aber super zum Wandern gewesen ist. Wir sind über Strände und Klippen gelaufen und sind auf den Diamond Hill im Connemara National Park geklettert. Es gab einen tollen Rundweg durch den Burren und wir fanden heraus, dass man für gutes vegetarisches Essen am besten einfach nur in den nächsten Pub geht statt in teure Restaurants. Wer mehr wissen mag: Ein bisschen über Irland erzählt hab ich letztens in unserem Podcast.
A propos Podcast: Letztes Wochenende fand in Köln die Role Play Convention statt. Die gab sich wieder alle Mühe, durch ihre wirklich bescheuerte Standplanung dafür zu sorgen, dass es völlig unmöglich war, sich zurechtzufinden. Wer auf die Idee kam, alles durcheinanderzuwerfen - wahrscheinlich mit der Absicht, für mehr Vermischung zu sorgen - gehört nachträglich noch mal mit 10 Stunden David Hasselhoff zugedröhnt. Das sorgte nämlich lediglich dafür, dass man niemanden gefunden hat und um innerhalb eines Interessensgebietes von einem Stand zum nächsten zu kommen immer wieder eine Ewigkeit laufen und suchen zu müssen. Und das Problem, dass die Besucher die untere Halle gar nicht erst finden hat man seit letztem Jahr auch nicht gelöst. Aber egal, die RPC ist für mich in Sachen LARP ungefähr das, was die re:publica zum Thema Internet ist: Ich treffe all die tollen und ein bisschen verückten Leute, die da unterwegs sind und da ist es am Ende egal, ob die Location saugt.
Gefreut habe ich mich vor allem, dass ich mich mit Tommy Krappweis unterhalten konnte. ich spreche ja Menschen nicht gerne einfach so an, wenn ich keinen konkreten Anlass habe (oder finde), daher war ich ganz froh, dass ich tatsächlich was mit ihm zu besprechen hatte - ich führe nämlich beim kommenden Conquest durch das Abendprogramm der Pre-Party und da ist Tommy einer der Gäste, mit denen ich in einem Interviewpanel reden werde. Und als Bonus hat er mir auch gleich noch die Gelegenheit gegeben, Professor Simek die Hand zu schütteln, den ich seit Jahren bewundere (der ein oder andere kennt ja vielleicht mein Interesse an vorchristlichen Kulturen).
Jetzt hab ich aber die Überleitung mit dem Podcast begonnen und das hat auch einen Grund: Ich habe nämlich ziemlich lange mit Jan geredet und ihn dann gefragt, ob er Lust hat, an einem halbwegs regelmäßigen Podcast über LARP-Themen mitzumachen. Er fand das prima, wir haben uns direkt für den Dienstag drauf verabredet und schwupp: die erste Folge ist auch schon online. Das heißt, ich habe es endlich geschafft, mit dem We Know Kung Fu Podcast auch das zu machen, was ich ursprünglich damit vorhatte, nämlich mit Menschen, die sich zwar auskennen, aber dadurch dass sie eher im Hintergrund arbeiten, nicht wirklich sichtbar sind, über ihr Thema zu sprechen.
War noch was? Ja, ich war vier mal beim Zahnarzt und muss noch mindestens zwei mal hin. Darauf hätte ich doch lieber verzichtet.
Ich war - wie jedes Jahr - auf der re:publica und es war - wie jedes Jahr - einer der wichtigsten Termine des Jahres für mich. Ich denke mal, wer mich kennt weiß, dass ich nicht beruflich dort bin, mir keine Businesstalks ansehe und keine geschäftlichen Interessen mit dem Besuch der Veranstaltung verbinde. Dennoch, oder besser deswegen, ist diese Woche für mich wichtig. Die re:publica ist für mich ein Familientreffen. Ich würde jede Unannehmlickeit in kauf nehmen, um sie nicht zu verpassen. Es gibt keine andere Veranstaltung, auf der so viele Menschen sind, denen ich mich verbunden fühle und die ich innigst in mein Herz geschlossen habe, auch wenn viele von ihnen das gar nicht wissen, weil ich gar nicht die Gelegenheit habe, mit allen zu sprechen.
Dieses Jahr fühlte sich aber die Vorbereitung auf die re:publica anders an als sonst. Denn einer der Menschen, die ich Jahre lang bewundert habe, war Johannes Korten und er ist tot. Ich habe ihn auf vielen vorangegangenen Veranstaltungen gesehen, aber erst letztes Jahr persönlich kennengelernt. Dass er dieses Jahr nicht da sein würde, ging mir näher als ich dachte. So nahe, dass ich Angst hatte, wie es sein würde, auf einer re:publica zu sein und er ist kein Teil mehr von ihr. Schlimmer, er findet gar nicht statt.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn in meinem Blog hier fand er ja auch nicht statt. Ich hatte durchaus letztes Jahr mehrmals versucht, Worte zu finden, aber es ging nicht. Ich habe am Ende mangels Worte ein Lied aufgenommen und auf Facebook gepostet und selbst da wurde der Text, den ich dazu schrieb, immer kürzer. Erst am Ende des Jahres hatte ich ein paar Zeilen mehr schreiben können.
Nachdem ich meine Situation auf Facebook schilderte kam heraus, dass ich nicht der einzige bin, dem es so ging. So überlegten Wibke und ich, wie wir in der kurzen Zeit doch noch etwas tun können. Um es kurz zu machen: Ich habe direkt am Sonntag abend noch Tanja und die Orga angesprochen die uns sofort alle Unterstützung zukommen ließen die wir brauchten (besonderen Dank an Simone, die trotz Krankheit am Montag ständig für uns da war), Wibke und ich haben Plakattafeln machen lassen und es hing am Ende eine Erinnerungswand für die Geister der re:publica.
Das war zwar aus dem Ärmel geschüttelt und ein erster Schritt, aber besser als gar nichts. Was sich aber bei den ganzen Gesprächen darüber herauskristallisierte war ein wichtiger Punkt: Wir haben noch überhaupt keine Erinnerungskultur. Wir treffen uns seit über zehn Jahren, sind stolz auf den Zusammenhalt und die Familiarität, die wir bewahrt haben und die trotz aller kritikwürdigen Dinge, Fehler, Schwierigkeiten, Dissonanzen, die auf der re:publica nicht ausbleiben, in ihrer DNA verankert ist. Wir erkannten, dass die re:publica nicht nur Themen aufgreift sondern auch eine Kultur geschaffen hat und diese weiterträgt. Aber eine Kultur muss gelebt werden, gepflegt werden und sie muss Platz beanspruchen. Platz für die Dinge, die alle betreffen, ob Businessfuzzi, Nerd, AktivistIn, HackerIn, BloggerIn und einfach egal wen. Und der Tod gehört zu den existenziellen Themen, ohne die es keine Kultur geben kann. Daher brauchen wir Erinnerung. Ich habe dieses Jahr mit so vielen Menschen über ganz persönliche, intime Dinge gesprochen wie lange nicht mehr. Der Bedarf dafür ist immens.
Ich werde daher nächstes Jahr einen Vorschlag machen, der kein Schnellschuss mehr ist: Ich stelle mir vor, dass wir weiterhin auf der re:publica über Technik und über Politik reden, uns über zu viel Business und zu wenig Aktivismus streiten, dass es Blödsinn, Trollerei und Party gibt und dass all das sogar besser wird, wenn wir unsere Geister nicht vergessen, die inzwischen unter uns wandeln. Die DNA der re:publica hat uns, die Menschen, die die Welt irgendwie besser machen wollen, im Mittelpunkt. Wenn wir in unserer Kultur Trauer, Erinnerung und Freude darüber, so wunderbare Menschen gekannt zu haben, dass sie uns fehlen wenn sie fort sind, zulassen, wird diese Kultur auch alle anderen Bereiche aktivieren und uns die Sicherheit geben, dass die re:publica nicht vergessen wird, wo sie herkommt.
Hab ich letzten Monat noch gesagt, ich fühle mich als Selbständiger sehr wohl? Stimmt immer noch. Aber dennoch kam Anfang April ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte, denn es war quasi genau der Job, für den ich vor 2 Jahren sagte, dass ich mich noch mal anstellen lassen würde und nach zwei Gesprächen, die mir sehr gut gefallen haben, war klar, dass ich das machen will. Das besonders Angenehme diesmal ist, dass ich aus einer Situation heraus verhandeln konnte, in der ich keinen Druck hatte und zu der ich auch jederzeit wieder zurückkommen kann, wenn sich herausstellen sollte, dass es nicht klappt. Nicht dass ich glaube, dass dazu Anlass besteht, aber es ist einfach mal ein schönes Gefühl der Sicherheit, das zu haben mich sehr entspannt. Über das wie und wo schreibe ich dann etwas später.
(Foto: Boris Bernhard)
Dann war ich letztes Wochenende auf einem Larp. Die weiße Dohle spielte im dreißigjährigen Krieg. Da es im Herbst noch einen zweiten Run geben wird, kann ich nicht viel erzählen, aber es ging um Flüchtlinge - von denen ich einer war -, um religiösen Wahn, um die Angst vor dem Fremden und darum, wie unterschiedliche Interessen dazu führen, dass sich am ende keiner mehr vertraut und sich jede gesellschaftliche Gruppierung nur noch um ihre eingenen Interessen kümmert. Für mich war interessant, dass ich verstanden habe, wie Parallelgesellschaften ticken: Es hatte sich mit meiner kleinen Gaunertruppe, die der eigenen "Familie" gegenüber schnell eine hundertprozentige Loyalität und ein Zusammenhalt entwickelt, der uns aber gleichzeitig gegen alle Autoritäten - ob das die Burgherrschaft, der Klerus oder ein Soldatentrupp war - abgrenzte, eine gar nicht so bewusst intendierte Abgrenzung ergeben, wie sie wahrscheinlich auch heute in Vorstädten oder bei ethnischen Minderheiten passiert. Und ich muss sagen: das hat sich sehr gut angefühlt, vor allem, weil wir sehen konnten wie schwach, korrupt oder ideologisch diese ihre Entscheidungen getroffen haben, in denen "wir" keine Rolle spielten.
Ein anderer Effekt, der im Debriefing am Sonntag ganz klar herauskam war, wie erschreckt die SpielerInnen darüber waren, dass sie entgegen besseren Wissens ein Gefühl der Rückerlangung von Kontrolle spüren konnten, als sie am Ende noch ein paar Hexen verbrannten. Der Gedanke war "Wenigstens passiert mal was" oder "Wenigstens tut jemand was", was man auch heute immer mal hört, wenn zum Beispiel ein Asylbewerberheim brennt. Die Erfahrung, dass man mal mitbekommt, wie dieser Gedanke zustande kommen kann - nämlich vor allem durch das Gefühl der Überwältigung und Machtlosigkeit durch die Umstände - war wohl sehr gruselig. Wer so nicht dachte, sagte dennoch nichts, sondern war insgeheim froh, dass es ihn nicht erwischt hat. Am Ende führte beides dazu, dass niemand sich dem sich entfaltenden, offensichtlichen Wahnsinn in den Weg stellte...
Was gabs noch? Ich war auf einer schönen Party eingeladen, die ein warmes und sonniges Wochenende lang dauerte. Sich mit Freundinnen und Freunden viel Zeit zum gemütlichen Feiern und Quatschen und essen und trinken zu nehmen ist etwas, was man viel öfter tun sollte. Leider bin ich sehr schlecht darin, sowas zu initiieren, daher war ich sehr dankbar, dass ich dabei sein durfte.
Das unangenehme Ereignis diesen Monats war, dass ich mir ein gefühlt riesiges Stück Backenzahn abgebrochen habe (Nie wieder Körnerbrot!) und ich jetzt einige Zahnarzttermine vor mir habe.
Ich hab hier eine ganze Weile nichts mehr reingeschrieben. Das liegt nicht daran, dass nichts passiert ist, sondern im Gegenteil: Ich hatte einfach woanders zu tun. Letzte Woche zum Beispiel war Karneval und ich war tatsächlich mal wieder ein bisschen unterwegs mit Freunden und wie es halt so ist, sind private Wasserstandsmeldungen, die weder für die gesamte Nachwelt relevant sind bzw nur Menschen interessieren, mit denen ich irgendwie persönlich verbunden bin, ja in die entsprechenden sozialen Medien abgewandert.
Außerdem war ja Februar und da mache ich gerne beim February Album Writing Month mit. Dieses Jahr wollte ich mal was anderes machen als sonst, nämlich Lieder schreiben und aufnehmen, die ich nur am Klavier begleite und singe, möglichst in einem Aufnahmetake. Nicht, weil ich das so gut könnte, sondern weil ich das so noch nie gemacht habe und seit etwas über einem Jahr genau das übe. Das heißt, ich wollte so weit wie möglich raus aus meiner Komfortzone. Das führte dann zu für mich durchaus überraschend akzeptablen Ergebnissen und sogar meinen ersten Collaborations mit anderen FAWMern.
Dann haben Sven und ich unseren Podcast We Know Kung Fu weitergeführt, immer noch ziemlich unter Ausschluss einer größeren Öffentlichkeit (wir haben inzwischen etwa 200 regelmäßige Hörer). Zu meinem letzten Artikel hier über die neuen alten Bullies entstand zum Beispiel eine eigene Folge, die meiner Meinung recht gelungen ist. Wir werden diese Woche eine neue Folge aufnehmen, es ist also höchste Zeit, uns mal zu abonnieren. Was ich leider immer noch nicht geschafft habe ist, eine zweite Podcast-Linie zu anderen Themen zu machen, die mich interessieren, aber ist ja alles Hobby. Ich hab auch keine Lust, mich selbst unter Druck zu setzen.
Ebenfalls viel Zeit beansprucht hat meine Arbeit an unserem Ghostbusters-LARP Zeitgeist, für das im Januar und Februar endlich mehr Informationen veröffentlicht werden konnten, wie und was da eigentlich gespielt wird. Ich betreue die Website und Facebook-Page und habe einen Artikel für die aktuelle Ausgabe der LARPZeit geschrieben.
Und nicht zuletzt habe ich mich im Februar mit meiner Kusine Diana dazu entschlossen, ein Buch zu schreiben, für das wir uns in den letzten Wochen einige Male zusammengesetzt haben und gerade das Konzept fertigstellen. Darüber kann ich leider jetzt noch nicht viel erzählen, obwohl wir das ganze quasi schon fast vollständig in unseren Köpfen haben. Zumindest hab ich es jetzt - ein bisschen versteckt - zum ersten mal angekündigt. Bitte ansonsten noch um etwas Geduld.
Ach ja, und für Geld arbeiten musste ich ja auch noch hin und wieder. Vielleicht hier noch ein Update: Es geht mir sehr gut damit, selbständig zu sein. Vieles von dem, was ich gerade mache und worüber ich hier schreibe wäre gar nicht - oder nur mit viel Stress - möglich, würde ich immer noch irgendwo ein Angestellter sein. Der Plan, nur so viel für Geld zu arbeiten wie nötig, um mehr Zeit für Dinge zu haben, die ich gerne mache, hat bislang wunderbar funktioniert. Ich bin so entspannt, wie ich es seit vielen Jahren nicht war.
Es ist also jede Menge los gewesen in den letzten sechs Wochen und ich habe auch einiges produziert und veröffentlicht, nur eben alles irgendwo anders als hier im Blog.
Es ist schon ein Weilchen her, dass ich mit Patrick Breitenbach mal darüber gesprochen habe, wie enttäuscht ich von Nerds bin, die es nicht schaffen, aus unserer Geschichte der Diskriminierung und einer Kindheit und Jugend als Opfer von Bullies den einfachen Transfer hin zu bekommen, dass der Schutz und die Solidarität mit Minderheiten und Diskriminierten ein Thema für uns sein muss. Dass es jetzt, wo wir mal Gehör finden und an vielen Stellen sogar die Oberhand haben, wichtig ist, nicht so zu tun, als ob wir nichts mit diskriminierten Gruppen und Menschen, die unter Vorurteile und Klischees leiden, zu tun hätten. Ich habe damals gesagt, dass wenn Nerds hier nichts unternehmen, das ganze Thema Nerds sehr schnell wieder untergehen wird, so wie es den Hippies gegangen ist. Und dass das in diesem Fall auch zu Recht passieren würde, denn dann haben wir es nicht anders verdient.
Ich bin ja bekanntlich kein negativer Mensch. Aber ich versuche, die Dinge realistisch zu sehen, wenn es um eine Einordnung geht. Meine Beurteilung von Dingen, die für andere Menschen gerne mal den Vorabend des Weltuntergangs einläutet, ist meistens wesentlich weniger aufregend. So auch jetzt: Natürlich ist der Aufstieg der Rechten bedenklich und gefährlich. Natürlich ist ein Präsident Trump eine grauenhafte Vorstellung. Natürlich ist die Übernahme der öffentlichen Diskussionen im Netz durch krakeelende Schreihälse, stumpfe Extremisten und hemmunglose Hater schlimm. aber es ist kein Weltuntergang und es ist nicht so, als ob man dagegen nichts tun kann, denn wir haben es weder mit einer Naturkatastrophe zu tun, noch mit einer völlig neuen Sorte Menschen. Gleichzeitig aber sind die momentanen Effekte bedenklich, denn es war nicht zuletzt das Internet und seine Dienste wie Twitter und Facebook, in dem gerade marginalisierte Gruppen sich endlich Gehör verschaffen konnten und in den letzten Monaten wird deutlich, dass der Ton in eben diesen Diensten so unfreundlich und giftig wird, dass sich diese Gruppen daraus zurückziehen müssen und damit Gefahr laufen, wieder zu verstummen.
Vielleicht muss man ein an die Fünfzig Jahre alter Nerd sein, um das zu erkennen, aber: Wir kennen das doch. Wir wissen, wie es ist, "die" zu sein gegenüber denen, die sich als "wir" bezeichnen. Wir kennen die Anführer. Die Trumps. Ich meine: Der Vergleich von Trump mit Biff Tannen, dem Bully aus "Zurück in die Zukunft" lag doch derart auf der Hand, dass er sofort aufkam, sobald Trump seine Kandidatur bekannt gab. Wir kennen diese (virtuellen) Muskelprotze und wir kennen auch die Clique die diesen Leuten hinterherläuft und glaubt, wenn sie nur genauso herumblöken, wären sie wie die oder bekämen ein bisschen von ihrem Fame ab.
Das sind also schlicht die Bullies von früher und jetzt werden sie auch im Internet aktiv: Genauso ignorant, laut, rücksichtlos und schamlos wie eh und je. Mit dem selben klaren Bewusstsein, mit allem durchzukommen, solange sie einfach nur zeigen, wer hier der Macker ist. Und wie früher scharen sie ihre Anhänger und Anhängerinnen hinter sich, die auf der Gewinnerseite stehen wollen, denn der Bully sagt an, wer die Loser sind: Nämlich jeder, der schwächer ist als er und nicht hinter ihm steht. Wir kennen auch die, die sich fein raushalten und zwar nicht mitmachen, aber auch keinen Finger rühren, so lange etwas nicht ihren eigenen Status in Gefahr bringt. Das war für uns als bebrillte, schmale, unbeliebte Kids lange und in zig Variationen das alltägliche Verhältnis zum "Mainstream", dem gegenüber wir daher ein starkes Misstrauen aufgebaut haben, das viele aber offenbar zu schnell wieder vergaßen, als Nerds plötzlich selbst zum Mainstream-"Wir" gehörten.
Der größte Feind des Bullies und seines Gefolges ist die Vielfalt und der Pluralismus. Dass Unterschiede akzeptiert werden mindert seine Deutungshoheit und verunsichert seine Fans, für die es nur ein richtiges und viele falsche Leben geben kann. Und das richtige Leben muss das der Mehrheit sein. Sehen sie plötzlich zu viel von dem, wie Schwule und Lesben leben, dass es Trans- und andere Sexualitäten gibt, dass Frauen individuelle Menschen mit unterschiedlichen persönlichen Zielen sind, dass es unterschiedliche Kulturen, Religionen, Weltanschauungen und Lebensentwürfe gibt, die ihnen den Eindruck vermitteln, dass ihr Anteil an der Welt ein viel geringerer ist, als sie dachten und vor allem fühlten, erscheint ihnen das bedrohlich. Als Angriff auf ihre Vorherrschaft. Und da es ihnen um Macht geht, reagieren sie darauf mit den bekannten Mitteln der Bullies: Den Drohgebärden aus hemmungslosem Hass, verletzendem Spott und - nach diesen Angriffen auf die Seele und der Rückversicherung, dass niemand sich wehrt - am Ende auch körperlicher Gewalt.
Wie konnte das passieren? Wie konnte das, was das Internet zur Vielfalt beigetragen hat, verloren gehen und zu seinem Gegenteil gedreht werden? Wie konnte es passieren, dass Menschen in den Diensten, die mal für Empowerment und Pluralismus standen, heute so massiv Hass und Häme entgegenschlägt, sobald sie wagen, etwas zu sagen?
Eine Erklärung meinerseits dafür ist: Weil das der Mainstream ist. Er war so und ist so. Egal, wie sehr wir dachten, ihn überwunden zu haben. Haben wir nicht, wir waren nur lange an einer Stelle, in dem der Mainstream nicht die Deutungshoheit hatte. Jetzt gewinnt er ihn gerade zurück, auch im Internet. Das ist auch nicht neu, es gibt Stellen, da hat er sie schon seit Jahren: Zum Beispiel in den Kommentarspalten der Massenmedien. Die Community Manager dort bemerken das Fehlen der Meinungsvielfalt gar nicht - es sieht ja so aus, als ob es die gibt, aber es ist nur der alte polare Kampf "die" gegen "wir", "links" gegen "rechts", "richtig" gegen "falsch" oder "gut" gegen "böse", bei dem es immer nur zwei Lager gibt und jede Stimme gnadenlos untergeht, die sagt, es gibt auch noch was "anderes" als diese beiden. Das Andere fand dort noch nie statt. Aber das Andere verschwindet inzwischen auch auf Twitter und Facebook wieder.
Was kann man tun?
Einiges. Zunächst können wir Älteren mal versuchen, nicht entweder in Panik zu geraten oder zu resignieren, sondern festzustellen, dass wir solche Situationen schon mehrfach erlebt, überstanden und auch verbessert haben. Wir müssen uns auch eingestehen, dass wir es nicht geschafft haben, Solidarität zu zeigen und die Tools so zu bauen und zu gestalten, dass Minderheiten geschützt und Pluralismus erhalten oder gefördert wird. Wir können anderen beibringen, dass man nicht auf den ersten hören muss, der was meldet, sondern abwarten kann, bis die Fakten klar sind.
Es gibt die Rückzugsräume. Das waren früher die Selbsthilfegruppen, die Nerdkeller, die Schwulenbars und die Untergrund-Clubs, in denen man sein konnte wie man ist. Das sind im Internet Messenger-Gruppen, geschlossene Foren und Blogs. Mainstream-Plattformen bieten das zum Teil zwar auch, aber die wichtige Anonymität und Pseudonymität gibt es da ja nicht und das ist einer der Gründe, warum gerade junge Menschen sich dort schon länger nicht mehr sicher fühlen und sich beteiligen. Das ist auch alles gut, aber es ist am Ende so wie früher: Man sieht sie nicht mehr. Sie verschwinden aus der Welt.
Was hat das Netz früher richtiger gemacht? Eins war sicherlich die dezentralere Vernetzung über Blogs. Das andere war, dass man in Blogs sein Hausrecht durchsetzen konnte und dumme Kommentare löschen oder die Funktion gar nicht erst freischalten konnte. Die Geschwindigkeit und Heftigkeit, mit der eine Konversation über kontroverse Themen stattfand sowie die Sichtbarkeit, die für die- und denjenigen erträglich war, war durch diese beiden Eigenschaften in einem Rahmen, den man verwalten konnte. Allerdings: Natürlich ist "Back to the Blogs" keine Lösung. "Früher war alles besser, also lasst uns alles so machen wie damals" hat noch nie funktioniert. Aber man kann aus den Prinzipien und aus den erfolgreichen Mustern lernen.
Eins ist, dass die Deutungshoheit wichtig ist. Bei Twitter ist sie verlorengegangen: Zu leicht kann man dort Mobs organisieren, inzwischen unterstützt von zig Bots, die einen unliebigen Account in kürzester Zeit mürbe machen bis er entnervt gelöscht oder verlassen wird. Seit Twitter Threads auch noch automatisch anzeigt und auch noch das hervor hebt, was eine vermeintliche Mehrheit gut findet, ist Twitter für Minderheiten tot, wenn sie nicht als Multiplikatoren etabliert sind. Auf Facebook sieht das noch etwas anders aus, da man dort die Möglichkeit hat, sich wichtige Filterblasen zu bilden (weshalb ich auch gegen das Narrativ bin, dass Filterblasen etwas schlechtes seien) und sich gegen die Bullies zu immunisieren. Dennoch sind auch hier die Algorithmen so geschnitten, dass Lautstärke siegt, was den Bullies und Mobs momentan in die Hände spielt. Daher ist es auch dort an den Multiplikatoren, sich zu äußern und auch rigoroser die Bullies abzuwehren - zum Beispiel, indem sie sie nicht in ihren Threads zulassen (sprich: löschen) und klarstellen, dass sie sich nicht von ihnen einschüchtern lassen. Es gibt keinen Grund, bei Facebook darauf zu verzichten, sich und andere vor Anfeindungen und vor Bullies zu schützen, so wie wir es in den ersten 10 Jahren der Zweitausender Jahre in unseren Blogs auch getan haben.
Was auch damals gut funktioniert hat und was man daher auch mal in die heutige Internet-Landschaft übertragen kann ist, nicht über jedes hingehaltene Stöckchen zu springen und sich damit zu Empörungsgehilfen machen zu lassen. Natürlich ist es ärgerlich, wenn Politiker oder Medienmenschen versuchen, mit Provokationen und Hass gegen Minderheiten zu punkten. Aber man reagiert immer wieder auf neue Provokationen, die doch immer nur das selbe Lied singen. Eigene Lieder sind aber das, was bleibt. Lasst uns daher mehr eigene Themen setzen statt uns an den Themen der Hetzer abzuarbeiten und die auch noch zu verbreiten. Sind wir doch mal erster. Sollen die sich doch an unseren Themen reiben. Auch das funktionierte in der Blogger-Ära gut: Selbst schreiben, statt woanders zu kommentieren. Die eigenen Positionen festigen und die Menschen unterstützen, die unsere Solidarität brauchen geht auch in den heutigen sozialen Medien und funktioniert auf lange Sicht besser, als seine Zeit in endlosen Kommentarthreads auf Seiten zu verschwenden, in denen Community-Manager ihre Arbeit nicht machen. Sichtbarkeit erhält man nicht in Kommentarspalten.
Was auch passieren muss - und meiner Meinung auch wird - ist, dass die Algorithmen, mit denen Aufmerksamkeit geschaffen oder verhindert wird, sich ändern. Es kann nicht sein, dass wer am lautesten und am wüstesten schreit, mit Reichweite belohnt wird. Die "wir zeigen Dir das, was Relevant ist" Mechaniken der Social Media Plattformen, die die frühere, diskriminierungsfreie schlicht nach absteigender Aktualität sortierte Reihenfolge abgelöst haben, haben unsere Timelines in Schlachtfelder verwandelt: Sobald sich irgendwo ein Bully das Wort ergreift, wird diese Stelle für seinesgleichen auch noch hervorgehoben, damit auch ja alle mitbekommen, wo sie mit Fackeln und Heugabeln einfallen müssen.
Ich bin mir sicher, dass Plattformen, die das nicht erkennen und reagieren, mittelfristig untergehen werden und dass andere Plattformen entstehen und wachsen, die es schaffen, sicherere Orte für alle Gruppen zu sein. Da ist dann mein relativer Optimismus: Ich glaube, dass Pluralismus immer im Vorteil sein wird, egal wie oft ein Backlash es schafft, das für eine Weile anders aussehen zu lassen. In der langen Sicht wird die Welt sichtbar bunter, vielfältiger und multikultureller im eigentlichen Sinne des Wortes. Ich kenne die Siebziger, in denen die heutige menschliche Vielfalt kaum sichtbar war, die Achtziger mit dem Aufstieg von Diversität trotz heftiger Vorurteile und die Neunziger, in denen sich so viele Subkulturen nicht mehr im Untergrund verstecken mussten. Die Richtung war und ist immer vorwärts gerichtet und progressiv. Die Welt der Fünfziger ist Vergangenheit und ihre Weltsicht hat bestenfalls nostalgische Bedeutung. Sie ist so weit weg von unserer heutigen Realität und der Richtung, in die sich diese entwickelt, dass sie genauso wenig wiederkommen wird wie das Deutsche Kaiserreich oder das Mittelalter.
Soweit mal meine Gedanken. Da ist noch viel unsortiert und offen, vielleicht habt ihr ja noch Ideen und Vorschläge, wie wir mit der Situation und mit den Bullies besser umgehen können, denn das wird uns jetzt die nächste Zeit erst mal beschäftigen.