Es ist schon ein Weilchen her, dass ich mit Patrick Breitenbach mal darüber gesprochen habe, wie enttäuscht ich von Nerds bin, die es nicht schaffen, aus unserer Geschichte der Diskriminierung und einer Kindheit und Jugend als Opfer von Bullies den einfachen Transfer hin zu bekommen, dass der Schutz und die Solidarität mit Minderheiten und Diskriminierten ein Thema für uns sein muss. Dass es jetzt, wo wir mal Gehör finden und an vielen Stellen sogar die Oberhand haben, wichtig ist, nicht so zu tun, als ob wir nichts mit diskriminierten Gruppen und Menschen, die unter Vorurteile und Klischees leiden, zu tun hätten. Ich habe damals gesagt, dass wenn Nerds hier nichts unternehmen, das ganze Thema Nerds sehr schnell wieder untergehen wird, so wie es den Hippies gegangen ist. Und dass das in diesem Fall auch zu Recht passieren würde, denn dann haben wir es nicht anders verdient.
Ich bin ja bekanntlich kein negativer Mensch. Aber ich versuche, die Dinge realistisch zu sehen, wenn es um eine Einordnung geht. Meine Beurteilung von Dingen, die für andere Menschen gerne mal den Vorabend des Weltuntergangs einläutet, ist meistens wesentlich weniger aufregend. So auch jetzt: Natürlich ist der Aufstieg der Rechten bedenklich und gefährlich. Natürlich ist ein Präsident Trump eine grauenhafte Vorstellung. Natürlich ist die Übernahme der öffentlichen Diskussionen im Netz durch krakeelende Schreihälse, stumpfe Extremisten und hemmunglose Hater schlimm. aber es ist kein Weltuntergang und es ist nicht so, als ob man dagegen nichts tun kann, denn wir haben es weder mit einer Naturkatastrophe zu tun, noch mit einer völlig neuen Sorte Menschen. Gleichzeitig aber sind die momentanen Effekte bedenklich, denn es war nicht zuletzt das Internet und seine Dienste wie Twitter und Facebook, in dem gerade marginalisierte Gruppen sich endlich Gehör verschaffen konnten und in den letzten Monaten wird deutlich, dass der Ton in eben diesen Diensten so unfreundlich und giftig wird, dass sich diese Gruppen daraus zurückziehen müssen und damit Gefahr laufen, wieder zu verstummen.
Vielleicht muss man ein an die Fünfzig Jahre alter Nerd sein, um das zu erkennen, aber: Wir kennen das doch. Wir wissen, wie es ist, "die" zu sein gegenüber denen, die sich als "wir" bezeichnen. Wir kennen die Anführer. Die Trumps. Ich meine: Der Vergleich von Trump mit Biff Tannen, dem Bully aus "Zurück in die Zukunft" lag doch derart auf der Hand, dass er sofort aufkam, sobald Trump seine Kandidatur bekannt gab. Wir kennen diese (virtuellen) Muskelprotze und wir kennen auch die Clique die diesen Leuten hinterherläuft und glaubt, wenn sie nur genauso herumblöken, wären sie wie die oder bekämen ein bisschen von ihrem Fame ab.
Das sind also schlicht die Bullies von früher und jetzt werden sie auch im Internet aktiv: Genauso ignorant, laut, rücksichtlos und schamlos wie eh und je. Mit dem selben klaren Bewusstsein, mit allem durchzukommen, solange sie einfach nur zeigen, wer hier der Macker ist. Und wie früher scharen sie ihre Anhänger und Anhängerinnen hinter sich, die auf der Gewinnerseite stehen wollen, denn der Bully sagt an, wer die Loser sind: Nämlich jeder, der schwächer ist als er und nicht hinter ihm steht. Wir kennen auch die, die sich fein raushalten und zwar nicht mitmachen, aber auch keinen Finger rühren, so lange etwas nicht ihren eigenen Status in Gefahr bringt. Das war für uns als bebrillte, schmale, unbeliebte Kids lange und in zig Variationen das alltägliche Verhältnis zum "Mainstream", dem gegenüber wir daher ein starkes Misstrauen aufgebaut haben, das viele aber offenbar zu schnell wieder vergaßen, als Nerds plötzlich selbst zum Mainstream-"Wir" gehörten.
Der größte Feind des Bullies und seines Gefolges ist die Vielfalt und der Pluralismus. Dass Unterschiede akzeptiert werden mindert seine Deutungshoheit und verunsichert seine Fans, für die es nur ein richtiges und viele falsche Leben geben kann. Und das richtige Leben muss das der Mehrheit sein. Sehen sie plötzlich zu viel von dem, wie Schwule und Lesben leben, dass es Trans- und andere Sexualitäten gibt, dass Frauen individuelle Menschen mit unterschiedlichen persönlichen Zielen sind, dass es unterschiedliche Kulturen, Religionen, Weltanschauungen und Lebensentwürfe gibt, die ihnen den Eindruck vermitteln, dass ihr Anteil an der Welt ein viel geringerer ist, als sie dachten und vor allem fühlten, erscheint ihnen das bedrohlich. Als Angriff auf ihre Vorherrschaft. Und da es ihnen um Macht geht, reagieren sie darauf mit den bekannten Mitteln der Bullies: Den Drohgebärden aus hemmungslosem Hass, verletzendem Spott und - nach diesen Angriffen auf die Seele und der Rückversicherung, dass niemand sich wehrt - am Ende auch körperlicher Gewalt.
Wie konnte das passieren? Wie konnte das, was das Internet zur Vielfalt beigetragen hat, verloren gehen und zu seinem Gegenteil gedreht werden? Wie konnte es passieren, dass Menschen in den Diensten, die mal für Empowerment und Pluralismus standen, heute so massiv Hass und Häme entgegenschlägt, sobald sie wagen, etwas zu sagen?
Eine Erklärung meinerseits dafür ist: Weil das der Mainstream ist. Er war so und ist so. Egal, wie sehr wir dachten, ihn überwunden zu haben. Haben wir nicht, wir waren nur lange an einer Stelle, in dem der Mainstream nicht die Deutungshoheit hatte. Jetzt gewinnt er ihn gerade zurück, auch im Internet. Das ist auch nicht neu, es gibt Stellen, da hat er sie schon seit Jahren: Zum Beispiel in den Kommentarspalten der Massenmedien. Die Community Manager dort bemerken das Fehlen der Meinungsvielfalt gar nicht - es sieht ja so aus, als ob es die gibt, aber es ist nur der alte polare Kampf "die" gegen "wir", "links" gegen "rechts", "richtig" gegen "falsch" oder "gut" gegen "böse", bei dem es immer nur zwei Lager gibt und jede Stimme gnadenlos untergeht, die sagt, es gibt auch noch was "anderes" als diese beiden. Das Andere fand dort noch nie statt. Aber das Andere verschwindet inzwischen auch auf Twitter und Facebook wieder.
Was kann man tun?
Einiges. Zunächst können wir Älteren mal versuchen, nicht entweder in Panik zu geraten oder zu resignieren, sondern festzustellen, dass wir solche Situationen schon mehrfach erlebt, überstanden und auch verbessert haben. Wir müssen uns auch eingestehen, dass wir es nicht geschafft haben, Solidarität zu zeigen und die Tools so zu bauen und zu gestalten, dass Minderheiten geschützt und Pluralismus erhalten oder gefördert wird. Wir können anderen beibringen, dass man nicht auf den ersten hören muss, der was meldet, sondern abwarten kann, bis die Fakten klar sind.
Es gibt die Rückzugsräume. Das waren früher die Selbsthilfegruppen, die Nerdkeller, die Schwulenbars und die Untergrund-Clubs, in denen man sein konnte wie man ist. Das sind im Internet Messenger-Gruppen, geschlossene Foren und Blogs. Mainstream-Plattformen bieten das zum Teil zwar auch, aber die wichtige Anonymität und Pseudonymität gibt es da ja nicht und das ist einer der Gründe, warum gerade junge Menschen sich dort schon länger nicht mehr sicher fühlen und sich beteiligen. Das ist auch alles gut, aber es ist am Ende so wie früher: Man sieht sie nicht mehr. Sie verschwinden aus der Welt.
Was hat das Netz früher richtiger gemacht? Eins war sicherlich die dezentralere Vernetzung über Blogs. Das andere war, dass man in Blogs sein Hausrecht durchsetzen konnte und dumme Kommentare löschen oder die Funktion gar nicht erst freischalten konnte. Die Geschwindigkeit und Heftigkeit, mit der eine Konversation über kontroverse Themen stattfand sowie die Sichtbarkeit, die für die- und denjenigen erträglich war, war durch diese beiden Eigenschaften in einem Rahmen, den man verwalten konnte. Allerdings: Natürlich ist "Back to the Blogs" keine Lösung. "Früher war alles besser, also lasst uns alles so machen wie damals" hat noch nie funktioniert. Aber man kann aus den Prinzipien und aus den erfolgreichen Mustern lernen.
Eins ist, dass die Deutungshoheit wichtig ist. Bei Twitter ist sie verlorengegangen: Zu leicht kann man dort Mobs organisieren, inzwischen unterstützt von zig Bots, die einen unliebigen Account in kürzester Zeit mürbe machen bis er entnervt gelöscht oder verlassen wird. Seit Twitter Threads auch noch automatisch anzeigt und auch noch das hervor hebt, was eine vermeintliche Mehrheit gut findet, ist Twitter für Minderheiten tot, wenn sie nicht als Multiplikatoren etabliert sind. Auf Facebook sieht das noch etwas anders aus, da man dort die Möglichkeit hat, sich wichtige Filterblasen zu bilden (weshalb ich auch gegen das Narrativ bin, dass Filterblasen etwas schlechtes seien) und sich gegen die Bullies zu immunisieren. Dennoch sind auch hier die Algorithmen so geschnitten, dass Lautstärke siegt, was den Bullies und Mobs momentan in die Hände spielt. Daher ist es auch dort an den Multiplikatoren, sich zu äußern und auch rigoroser die Bullies abzuwehren - zum Beispiel, indem sie sie nicht in ihren Threads zulassen (sprich: löschen) und klarstellen, dass sie sich nicht von ihnen einschüchtern lassen. Es gibt keinen Grund, bei Facebook darauf zu verzichten, sich und andere vor Anfeindungen und vor Bullies zu schützen, so wie wir es in den ersten 10 Jahren der Zweitausender Jahre in unseren Blogs auch getan haben.
Was auch damals gut funktioniert hat und was man daher auch mal in die heutige Internet-Landschaft übertragen kann ist, nicht über jedes hingehaltene Stöckchen zu springen und sich damit zu Empörungsgehilfen machen zu lassen. Natürlich ist es ärgerlich, wenn Politiker oder Medienmenschen versuchen, mit Provokationen und Hass gegen Minderheiten zu punkten. Aber man reagiert immer wieder auf neue Provokationen, die doch immer nur das selbe Lied singen. Eigene Lieder sind aber das, was bleibt. Lasst uns daher mehr eigene Themen setzen statt uns an den Themen der Hetzer abzuarbeiten und die auch noch zu verbreiten. Sind wir doch mal erster. Sollen die sich doch an unseren Themen reiben. Auch das funktionierte in der Blogger-Ära gut: Selbst schreiben, statt woanders zu kommentieren. Die eigenen Positionen festigen und die Menschen unterstützen, die unsere Solidarität brauchen geht auch in den heutigen sozialen Medien und funktioniert auf lange Sicht besser, als seine Zeit in endlosen Kommentarthreads auf Seiten zu verschwenden, in denen Community-Manager ihre Arbeit nicht machen. Sichtbarkeit erhält man nicht in Kommentarspalten.
Was auch passieren muss - und meiner Meinung auch wird - ist, dass die Algorithmen, mit denen Aufmerksamkeit geschaffen oder verhindert wird, sich ändern. Es kann nicht sein, dass wer am lautesten und am wüstesten schreit, mit Reichweite belohnt wird. Die "wir zeigen Dir das, was Relevant ist" Mechaniken der Social Media Plattformen, die die frühere, diskriminierungsfreie schlicht nach absteigender Aktualität sortierte Reihenfolge abgelöst haben, haben unsere Timelines in Schlachtfelder verwandelt: Sobald sich irgendwo ein Bully das Wort ergreift, wird diese Stelle für seinesgleichen auch noch hervorgehoben, damit auch ja alle mitbekommen, wo sie mit Fackeln und Heugabeln einfallen müssen.
Ich bin mir sicher, dass Plattformen, die das nicht erkennen und reagieren, mittelfristig untergehen werden und dass andere Plattformen entstehen und wachsen, die es schaffen, sicherere Orte für alle Gruppen zu sein. Da ist dann mein relativer Optimismus: Ich glaube, dass Pluralismus immer im Vorteil sein wird, egal wie oft ein Backlash es schafft, das für eine Weile anders aussehen zu lassen. In der langen Sicht wird die Welt sichtbar bunter, vielfältiger und multikultureller im eigentlichen Sinne des Wortes. Ich kenne die Siebziger, in denen die heutige menschliche Vielfalt kaum sichtbar war, die Achtziger mit dem Aufstieg von Diversität trotz heftiger Vorurteile und die Neunziger, in denen sich so viele Subkulturen nicht mehr im Untergrund verstecken mussten. Die Richtung war und ist immer vorwärts gerichtet und progressiv. Die Welt der Fünfziger ist Vergangenheit und ihre Weltsicht hat bestenfalls nostalgische Bedeutung. Sie ist so weit weg von unserer heutigen Realität und der Richtung, in die sich diese entwickelt, dass sie genauso wenig wiederkommen wird wie das Deutsche Kaiserreich oder das Mittelalter.
Soweit mal meine Gedanken. Da ist noch viel unsortiert und offen, vielleicht habt ihr ja noch Ideen und Vorschläge, wie wir mit der Situation und mit den Bullies besser umgehen können, denn das wird uns jetzt die nächste Zeit erst mal beschäftigen.
Sven und ich haben über das Thema auch noch einen Podcast gemacht.