Es gibt nicht allzu viele Beraterphrasen, die ich in meinem Beruf als Consultant dresche. Manchmal muss es zwar auch mal eine sein, damit mich mein Gegenüber richtig versteht, aber die meisten sind ja in Wirklichkeit nur irgendwie aufgepimpte Binsenweisheiten. Da kann ich auch gleich direkt die Binse nennen und dazu sagen, dass das keine Kunst ist, sowas zu wissen, allerdings im Zweifelsfall durchaus eine, sie richtig anzuwenden.
Einen Beraterausdruck aber gibt es, den ich auch selbst gerne in den Mund nehme. Und zwar, weil man mit ihm treffend mehrere wichtige Punkte umschreiben kann. Es geht um den Ausdruck "den Ball weit nach vorne werfen" und der erste Punkt um den mir dabei es geht ist, dass am Ende - je nachdem, um was es gerade konkret geht - derjenige gewinnt, der zuvor den mutigsten Schritt gemacht hat, das fortschrittlichste Konzept vorstellte, die am weitesten gehende Vision erklärt hat. Wenn es dann nämlich ein wirklich gutes, mutiges, innovatives Ergebnis gibt sind all diejenigen, die eventuell während des Entwicklungsprozesses oder schon davor ganz gut alles bemäkeln und kritisieren konnten, unwichtig, denn sie haben letztlich außer Kritik nichts vorzuweisen und landen als Neider und Miesmacher auf der Loserliste. Der Erfolg spricht für sich selbst.
Ein weiterer Punkt, den ich an dem Bild vom Ball werfen mag ist der, dass man wissen muss, wo man steht und wo ungefähr das Ziel ist, um einen Ball in eine gewünschte Richtung werfen zu können. Es heißt ja nicht nur "den Ball möglichst weit werfen" sondern eben auch "nach vorn". Das geht nicht, wenn man nicht genau weiß, wo man sich befindet und wo vorne ist.
Den Ball werfen hat außerdem etwas spielerisches, experimentelles. Man kann einen Ball auch über einen Zaun werfen, Barrieren überwindet man nicht dadurch, dass man sie akzeptiert. Es geht darum, denen voraus zu sein, die glauben, Bälle dürfen nur gefahrlos rollen. Ich mag deswegen auch keine Benchmarks und halte überhaupt nichts vom vielgelobten Best Practice: Das sind Vorgehensweisen aus der Technokraten-Toolbox, für die muss man nicht wirklich nachdenken, ja für die braucht man nicht einmal einen Menschen, das kann ein Computer alleine ausrechnen - weshalb Technokraten sie ja auch präferieren, denn sie glauben, damit auf Nummer sicher zu sein (was freilich ein Irrtum ist, denn dann wird man irgendwann unweigerlich von so einem Ballwerfer überholt).
Der Unterschied zwischen Lösungen, die ein Computer errechnet und Lösungen, die Menschen sich ausdenken können ist, dass der Computer nichts neues erschaffen wird sondern immer nur das bestehende optimiert. Was eine prima Aufgabe für Computer ist, aber nicht für Menschen (ein Grund, weshalb ich auch keine Angst vor der Macht der Algorithmen habe). Und so oft ich von "Weiterentwicklungen" lese: Meistens handelt es sich dabei nur um Entwicklungen, also bestenfalls Optimierungen und schlechtestenfalls um genau das selbe in anderer Form. Meine erste Frage, wenn jemand so eine Best Practice Lösung von mir haben will, ist daher meistens: "Ihnen ist aber klar dass Sie am Ende dann zwar eine Veränderung haben, aber nicht unbedingt eine Verbesserung?"
Aber weshalb ich das hier überhaupt aufschreibe: Ich werfe ja nicht nur beruflich Bälle, es gibt ja auch noch andere Dinge, die wichtig sind und bei denen ich mir wünschte, es gäbe mehr Menschen, die einfach mal einen Ball nach vorne werfen würden.
Zum Beispiel Politik. Es wird so viel davon geredet, dass man "gestalten" wolle, man verwaltet aber nur. Die Leute, die einen Ball werfen könnten, tun es nicht. Die, die es gerne tun würden, werden nicht an die Stelle gelassen, von wo aus sie es könnten. Man kann sich dran gewöhnen, aber wie viel besser wäre es, wenn statt der ständigen Placebothemen mal die wichtigen Dinge angefasst würden? Es gibt ja so viele Bälle: Ein gerechtes und einfaches Steuersystem? Echter Verbraucherschutz? Ein wirklich gutes Bildungssystem? Das bedingungslose Grundeinkommen? Keine da, der da mal einen Wurf wagt. Stattdessen hat man Angst vor den eigenen Bürgern, die man mit immer mehr Überwachungs- und Zensurmaßnahmen verwaltbar halten will.
Zum Beispiel Gesellschaft und dass irgendwelche populistische Mäkeleien von nem Schnauzbartträger grade Thema Nummer 1 ist. Meine Erfahrung ist: Populisten haben nur so lange Macht, so lange sie ein Problemvakuum ausfüllen können. Eines, in dem eigentlich schon längst was getan werden müsste, aber wo dennoch nichts passiert. Jeder weiß, dass da ein Problem ist. Der Populist ist derjenige, der behauptet, ein Problem wird dadurch gelöst, dass man jemandem möglichst Schwachen dafür die Schuld gibt (blame the victim), ihn dann wegjagt und damit sei das Problem mit verschwunden. Seine Befürworter sind die, die das nur allzu gerne glauben würden weil es eine Lösung ohne echte Veränderung ihrer eigenen kleinen Welt ist. Natürlich kann man auch jedem versuchen klarzumachen, dass das Unsinn ist. Aber so lange niemand den Ball aufgreift und dorthin wirft, wo eine echte, eine neue, eine gerechte Lösung zu erreichen ist, wird man sich weiter detailverliebt an dem blöden Populisten abarbeiten. Für mich ist aber jeder, der sich lediglich auf das Widerkäuen von Kritik und Empörung gegen Sarrazin beschränkt, ebenso mitverantwortlich dafür, dass es seinen ganzen dummen Schmampf überhaupt gibt.
Zum Beispiel ganz persönliches. ich stelle fest, dass ich seit einiger Zeit bei weitem nicht mehr so viel zu jammern habe als noch vor einigen Jahren. Nicht etwa, weil das Leben einfacher geworden ist, sondern weil ich nicht mehr das Gefühl habe, von den Ereignissen willenlos getrieben zu werden. Ich probiere viel mehr Dinge inzwischen lieber aus, statt mir lange Gedanken darüber zu machen, was ich genau will und am Ende gar nichts zu tun. Wenn etwas Unangenehmes passiert nutze ich das sofort zu einer Positionsbestimmung und suche eine Möglichkeit, um aus dieser Situation heraus etwas zu machen, was besser funktioniert. Ich finde dadurch recht schnell die Richtung, in die ich den Ball werfen kann. Sobald ich dann auf dem Weg bin, verschwindet das Gefühl der Ohnmacht und die damit verbundene Unzufriedenheit. Ich glaube inzwischen, dass Unzufriedenheit oft genug eine Ausrede ist, nichts tun zu müssen. Sie schützt einen vor dem Verdacht, dass man zu faul ist, sich oder etwas zu verändern. Bei mir war es jedenfalls hin und wieder so.
Im Moment aber bin ich sehr oft über sehr vieles sehr zufrieden, denn ich habe jede Menge Bälle im Spiel und werfe sie jedesmal noch ein Stück weiter als vorher.