Abirede 1989
Ich habe 1989 die Abirede für unseren Abiturjahrgang gehalten. Wie das kam war einigermaßen lustig, denn ich hatte mit 12 Punkten nicht die beste Abiklausur des Deutsch-LKs, es gab noch jemanden mit 13. Traditionellerweise - und wir befanden uns in Baden-Württemberg, wo alles traditionellerweise ja sogar immer ein wenig traditioneller ist - gibt es für die beste Deutsch-LK Note einen Buchpreis und die unausgesprochene Verpflichtung, die Abirede zu schreiben und zu halten.
Allerdings behalf die Schulkollegin mit den 13 Punkten sich eines netten Kniffes, um um diese Aufgabe herumzukommen: Sie fragte mich am Tag der Abschlussfeier, etwa 4 Stunden vor Beginn, um genauer zu sein, ob ich denn die Rede geschrieben habe. Ich sagte ihr, nein, hab ich nicht, weil sie doch diejenige mit der besten Klausur gewesen ist. Oje, meinte sie, das wäre ja blöd, denn sie dachte, die Abirede schreibt der mit der besten Gesamtnote in Deutsch und das wäre ja ich. Sie könne aber jetzt nicht schnell irgendwoher eine Rede zaubern und das hieße dann ja wohl, dass es keine geben wird...
Also hab ich mir ein paar Blätter Papier und nen Kugelschreiber besorgt, mich in die Ecke der Aula gesetzt und zunächst den Anfang und das Ende der Rede geschrieben. Danach hab ich mit dem Mittelteil begonnen und einfach so lange daran weitergeschrieben, bis wir uns für die Veranstaltung sammelten. Auf diese Weise ist eine Rede mit etwa vier Seiten Text entstanden und als das Programm an der Stelle war, als sich jeder fragte "gibts jetzt eigentlich eine Abirede?" stand ich auf, las das etwas unzusammenhängende Zeug vor, das ich bis kurz vorher zusammengeschrieben habe und hoffte, dass es nicht allzu doof wird, da ich noch nicht mal die Gelegenheit hatte, mir den gesamten Text nochmal durchzulesen, geschweige denn zu korrigieren und glatt zu machen. Letztens hab ich diese vier Blätter Papier tatsächlich wiedergefunden. Daher kommt nun hier - nach 21 Jahren - die Abirede des Jahrgangs 1989 des Schillergymnasiums in Pforzheim:
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Eltern und Lehrer. Knapp 75% des Abiturjahrganges 1989 des Schiller-Gymnasiums Pforzheim begrüßen Sie sehr herzlich zur offiziellen Abschlussfeier. 15% begrüßen Sie immerhin recht herzlich, 5% zumindest herzlich und die restlichen 5% begrüßen Sie ohne besonders ausgesuchte Höflichkeit, sondern einfach nur so.
Diese Rede wird sehr kurz und vielleicht ein wenig konfus ausfallen, etwa so wie diese seltsame Begrüßung gerade eben. Der Grund dafür ist etwas, was sich nur auf den ersten Blick betrachtet als ein Problem darstellt. Man könnte sogar sagen, dass dies die angenehmste Eigenschaft unseres Jahrgangs darstellt: Positiv ausgedrückt nennt man das eine breite Meinungsvielfalt. Die negative Auswirkung dieser Meinungsvielfalt ist, dass es dieser Klasse unmöglich ist, für sich als Einheit sprechen zu können. In absolut nichts, was wir in den letzten Jahren unternommen haben oder auch nur zu unternehmen versuchten gelang es uns, einen Konsens zu erreichen, oder wenigstens einen Kompromiss zu finden mit dem wirklich jeder von uns einverstanden gewesen ist. Noch nicht ein mal diese Rede ist einer, leben Sie daher im Folgenden mit dem ein oder anderen Widerspruch.
Die ersten, die nun von diesem Problem betroffen sind, sind diejenigen, die unsere Pluralität sowieso schon einige Jahre zu spüren hatten, nämlich die Schulleitung und unsere Lehrer. Bei denen bedanken wir uns für das große Engagement, mit dem sie uns, oder zumindest vielen von uns, über einige schwere Hürden geholfen haben. Das Verhältnis zu unseren Lehrern war um einiges persönlicher, als es auf einer staatlichen Schule möglich gewesen wäre. Die Besonderheit dieser Schule, der Ganztagesunterricht, spielte dafür natürlich eine erhebliche Rolle. Jedoch hat die Tatsache, dass wir unsere Lehrer als Menschen kennen lernten und nicht als abstrakte Autoritäten, auch Schattenseiten: Es gab immer mal wieder Noten, die nach Sympathie zustande zu kommen schienen. Bzw. nach Antipathie. Die überwiegenden Vorteile aus dieser speziellen Lehrer-Schüler-Beziehung, das große persönliche Engagement für den Einzelnen, die sofortige Bereitschaft vieler unserer Lehrer, für die Abivorbereitungen einen erheblichen Teil ihrer Freizeit zu opfern, der generelle Ehrgeiz, keinen von uns wirklich fallen zu lassen hat aber prinzipiell das Konzept der Schule bestätigt. Und wir geben hier auch gerne zu, dass es uns auf dieser Schule möglich war, ein besseres Abi zu machen, als wir es in jeder staatlichen Schule erreicht hätten - wobei das zugegebenermaßen nicht von bei der Gesamtheit der Klasse als erwiesen betrachtet wird.
Sei's drum, jedenfalls haben wir jetzt das Abitur: Die Welt steht uns offen. Oder - wie das der Prüfungsleiter nach dem Mündlichen auszudrücken beliebte "Wir haben ein Tor durchschritten"... er wurde dann noch etwas pathetischer... naja, zusammengefasst sagte er, jetzt ist die Schulzeit vorbei und wir müssen halt selber schauen, was wir jetzt so machen wollten. Und da ist die nächste Schwierigkeit: Einigen von uns macht das gar nichts aus, da Studium oder Lehre schon geplant sind und auf sie warten. Andere befürchten hinter jenem "Tor" dann doch erst ein mal ein riesengroßes Loch. Wieder andere fühlen sich nun etwas plötzlich allein gelassen in der großen weiten Welt und meinen, dass wir vielleicht ein bisschen zu sehr an der Hand genommen wurden und uns zu wenig Mut zur Selbständigkeit vermittelt wurde. Auf jeden Fall trüben hier Skepsis, Unsicherheit und Zukunftsangst ein wenig die Freude.
Dabei sind wir doch so gut aufs leben vorbereitet. Wir haben echt viele total wichtige Dinge gelernt. Wie zum Beispiel die Berechnung einer Normalebene aus Stütz- und Richtungsvektoren. Das Nahrungsaufnahmeverfahren eines Spulwurms. Wie man in Angola Tiefbrunnen baut. Dass die Römer nach der Benutzung des WCs Wasserschwämme an Holzstielen benutzten, um sich den Hintern abzuwischen. Und viele ähnliche Dinge, die man offenbar zum Leben einfach können und wissen muss... andererseits werden sich einige von uns wohl doch erstmal ein paar Bücher kaufen, um sich über ein paar - vielleicht zu unwichtige - Themen zu informieren, die in der Schule nicht wirklich vermittelt wurden: Wie man eine Bewerbung schreibt zum Beispiel oder wie man einen Lebenslauf verfasst. Warum fehlt das und warum wissen wir stattdessen auswendig, dass der Pilz ein Saprophyt und Destruent ist? Vielen von uns kamen praxisbezogene Themen zu kurz. Und nicht nur uns, denn auch mancher Lehrer vermochte auf die Frage, wozu wir manche Dinge eigentlich lernen müssen nur zu antworten "Weil's im Lehrplan steht!"
Das Problem ist aber ja nicht neu und es wird vermutlich auch nicht so schnell anders werden. Und wenn, dann wären wir davon sowieso nicht mehr betroffen. Wir müssen uns jetzt irgendwas ausdenken und werden sehen, was wir aus uns machen werden und wie wirs angehen. Meinungen dazu haben wir ja genug - von einem leistungsgläubigen "Jeder bekommt, was er verdient" bis zum "Du hast keine Chance, also nutze sie." - Letztendlich wird jede und jeder von uns irgendwie weiterkommen, egal wohin: Die Optimisten unter uns, auf die die Welt gerade noch gewartet hat und die Pessimisten, die sagen die Welt braucht Leute die sie zugrunde richten. Unsere emanzipierten Frauen und demanzipierten Männer. Die die sich schon immer haben durchmogeln können und die, die immer wieder bis zum Umfallen arbeiten. Die Träumer wie die Realisten, die politisch Engagierten - links wie rechts - und die, die ihren Intellekt nicht mit solchen profanen Themen belasten.
Für alle diese so verschiedenen, sehr individuellen Typen die wir sind, fängt jetzt etwas neues an - ob wir wollen oder nicht - und wir alle freuen uns schon drauf...
Nein, halt, einige haben einfach nur ziemliche Angst. Und ein paar anderen ist es scheißegal.
Und übermorgen gehe ich auf die Abschlussfeier meines Sohnes.
9 Kommentare
“Ich habe 1989 die Abirede für unseren Abiturjahrgang gehalten.” Bevor ich weiter lese, erst mal: Streber! :-)
So, jetzt habe ich sie durchgelesen. Wirklich sehr gut. Wir hatten gerade 20jähriges Abi-Treffen. Die Abi-Rede wurde bei den dort ausgetauschten Erinnerungen nicht erwähnt. Ich weiß gar nicht, ob es eine gab. Aber es war ja auch keine Privat-Schule. :-)
Wow, die Rede ist wirklich gut geworden, vor allem der Anfang hat was.
Naja, zum Glück hatte ich nie so eine Bürde zu tragen, weil meine Deutschnoten es sich schon früh im Mittelmaß gemütlich gemacht haben. Obwohl, ich meine mich zu erinnern, dass der Abschluss meiner humanistischen Grundausbildung nicht mit einer Rede von irgendjemand aus meiner Stufe endete. Oder…Moment mal. Doch, jetzt erinnere ich mich wieder. Oh.Meine.Ethik! Deswegen hat der W. die Rede gehalten!!! Selbst drei Jahre nach meinem Abi habe ich mich noch darüber gewundert. Ich kanns nicht glauben! Warum sagt mir keiner was von solchen Traditionen? Meine Güte, eine humanistische Grundausbildung verhilft noch keinem zu Gedankenlesen - höchstens zu Krampfanfällen, wenn das Wörtchen “Latein” fällt. Ich glaube, da muss ich mal ein Wörtchen mit meinen ehemaligen Lehrern sprechen. Aber bis dahin muss ich mich entschuldigen…ich muss meine Krampfkammer aufsuchen.
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]
@ollyyh
Naja, mit Privatschule hatte das nichts zu tun, ich erinnere mich daran, daß die Abireden in allen Schulen (ich war auf 4 verschiedenen Gymnasien) immer eine wichtige Sache waren und z.B. auch immer in der Schüler- oder Abizeitung abgedruckt wurden (diese allerdings wegen der Umstände der Entstehung nicht - und weil ich sie bis heute tatsächlich nie abgetippt habe).
Unsere werden heute leider nicht mehr abgedruckt, weder in Schüler- und Abizeitung. Ich bin in den letzten Jahren den Schülern hinterhergerannt, um sie wenigstens für die Schulhomepage zu kriegen, aber die Schüler selber interessieren sich leider nicht sehr dafür. Abizeitung: könnte ich aber fürs nächste Jahr anregen.
Ansosnten: schöne Rede, vor allem der Einstieg ist sehr gut.
Kommentar von: roland [Besucher]
Der Kelch ist an mir vorüber gegangen. Weil es bei uns keine Rede nie gab. Hab ich im Rückblick dann aber doch bereut, irgendwie. Einer meiner besten Freunde (auch heute noch) hat dann eine an seiner Schule gehalten, da war ich dann auch zugegen und die war hochpathetisch aber trotzdem super. Lustigerweise hat er sie mit einem Bild abgeschlossen, bei dem es um Bildhauererei ging. Er wusste gar nicht, dass er dass dann später auch lernen sollte, also Bildhauern. (Jetzt so frei flottierender Künstler).
Kommentar von: Chrys [Besucher]
Super Rede - und leider so aktuell wie damals, oder 6 Jahre später zu meiner Zeit, oder heute, ….
Der Hinweis auf die Realitätsnähe der Ausbildung ist leider auch auf Hochschulen übertragbar, und der Schluss-Satz sagt alles.
Sie ist damals sicher einigen Leuten aufgestoßen - aber ich hätte mir etwas ähnliches an meinem Abi gewünscht. Leider war unsere Abirede ein leeres hirnloses Gewäsch wie die Ausbildung davor auch :-(
Nunja.
Kommentar von: Aziza [Besucher]
Wow, die ist ja echt toll und dass du die noch hast! Kann mich nur so leider garnicht mehr an den denkwürdigen Abend erinnern … is ja auch irgendwie arg lang her!!!
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Wie ich damals schon sagte: Och, ist doch ganz OK geworden…