Mein 9. November und das Wort, dass ich am Ende des Tages hassen gelernt habe
(Bild von Twitter, ich reiche die Quelle nach, ich finde sie nämlich gerade nicht mehr)
Ich hatte den gesamten Umbruch in Europa relativ gut mitbekommen - zumindest was die offizielle Berichterstattung angeht, denn es gab ja noch keine Alternativen, geschweige denn ein Internet, in das Menschen das, was sie gerade erlebten, direkt reinschreiben hätten können. Aber da bei uns der Fernseher abends quasi immer an war, gab es wenig weltbewegendes zu verpassen.
Außerdem sind Astrid und ich im Sommer des Jahres 1989 knapp zwei Wochen in Polen gewesen und haben dort schon einiges von dem vorweg spüren können, was in den folgenden Monaten kam. Dort war der Umbruch nicht nur zu spüren, sondern schon lange in vollem Gange - wir hatten ja sogar den direkten Vergleich, da wir 1988 schon einmal in Polen gewesen sind. Letztendlich war das, was danach in Ostdeutschland passierte, daher für uns keine so große Überraschung, allerdings war der 9.11 durchaus dennoch ein Ausnahmetag. Den verbrachten wir weit weg von Berlin (Astrid als Au Pair in London und ich als Zivi in Pforzheim) vor dem Fernseher und schauten uns die Bilder an von den geplatzten Grenzen, durch die plötzlich unglaubliche Mengen Menschen strömten.
Ich erinnere mich an einen Gedanken, den ich dabei hatte: Was wäre eigentlich gewesen, wenn diese vielen Menschen schon viel früher mal auf die Idee gekommen wären, einfach mal über die Grenze zu spazieren, so wie sie es an diesem Abend taten? Sekt und Blumen in der Hand, die Grenzer einfach ignorierend? Ich meine, da standen die Leute plötzlich auf dieser Mauer. Die plötzlich überhaupt kein Hindernis mehr war - von einem Augenblick zum anderen. Warum hat dieses Ding nochmal Jahrzehnte so viele Menschen in Schach halten können? Angesichts der Bilder hatte ich auf diese Frage überhaupt keine logische Antwort mehr: Das Ding stellte doch überhaupt keine Gefahr dar. Die war ja offensichtlich nicht mal besonders hoch. Wie konnte diese Mauer innerhalb von ein paar Stunden ihre Macht komplett verlieren?
Letztendlich aber war ich nicht sonderlich emotional bei der ganzen Geschichte. Wir hatten Bekannte in der DDR - das Ostsee-Foto im letzten Blogartikel ist an einem unserer Besuche in Rostock entstanden - und natürlich freute ich mich darüber, dass dieses seltsame Gebilde da drüben, diese DDR, und überhaupt dieser kalte Krieg mit dem wir aufgewachsen sind und der immer irgendwie da war, ein Ende hat. Allerdings ging das ja schon früher los. Die DDR war ja zu dieser Zeit schon länger angezählt: die UdSSR war ja schon lange auf einem Reformpfad, der die Richtung vorgab. Auch die Proteste und die Reformkräfte in Ostdeutschland waren ja schon wochenlang in den Medien, ohne die Russen war sowas nicht mehr zu stoppen und Gorbatschow hatte kurz zuvor auch Honecker gegenüber klargestellt, dass diese Zeiten vorbei sind. Und jeder ahnte, dass am 30. September das Thema eigentlich schon durch war.
Vielleicht also - und das hab ich mich bei so manchen Rückblicken und Jahrestagen der letzten 25 Jahre öfter mal gefragt - ist es manchmal besser, gar nicht mal so gut informiert zu sein, um die emotionale Wucht eines solchen Ereignisses erleben zu können. Ja, es war ein toller und spannender Tag. Aber die einzige wirklich heftige Emotion, an die ich mich erinnere, war dass ich nach zwei Stunden das Wort "Wahnsinn" echt nicht mehr hören konnte. Denn das wars definitiv nicht, auch wenn jeder Mensch, der an diesem Abend ein Mikrofon ins Gesicht gehalten bekam, dieses Wort benutze.
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Am Abend des 9. November 1989 sah ich beim meinem Bruder, der damals noch bei unseren Eltern wohnte, die berühmte Pressekonferenz mit Günter Schabowski im Fernsehen.
Mein Bruder langweilte sich und wollte umstellen, und zwar unmittelbar nach Schabowskis berühmten Worten, die er mit unsicherer Stimme von einem Zettel ablas: “Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden". Auf eine Reporternachfrage stammelte er: “Das tritt … nach meiner Kenntnis … äh, ist das …sofort, äh … unverzüglich” oder so ähnlich.
Daher antwortete ich meinem Bruder, der das anscheinend gar nicht mitbekommen hatte: “Lass mal, gerade gibt die DDR ihre Selbstauflösung bekannt.”
Ich ahnte übrigens in diesem Moment nicht, dass ich mit meiner sarkastischen Bemerkung recht hätte - ich dachte nur, dass sich Schabowski um Kopf und Kragen redet und sofort nach Ende der Pressekonferenz abgesetzt würde.
Mir ist auch noch gut ein Gespräch zweier älterer Frauen, die beide den 2. Weltkrieg bewusst miterlebt hatten, am Morgen des 10. Novembers 1989 in Erinnerung: “Ich hätte nie gedacht, dass so was ohne Krieg abgeht.” - “Hoffen wir, dass es so friedlich bleibt.” Der “Fall der Mauer” ohne Krieg - daran hatten diese Frauen niemals gedacht. Es widersprach ihrer Lebenserfahrung.
MartinM