Wenn alle nur noch rumbrüllen, geh ich weg
Letztens hab ich drüber geschrieben, wie sich Eigenschaften, die mir früher Schwierigkeiten gemacht haben, heute als hilfreich erweisen. Dabei war mir eine weitere eingefallen, die ich nicht in den Artikel aufgenommen habe, weil ich nicht weiß, ob das eine gute oder eine schlechte Eigenschaft ist. Wahrscheinlich weder noch und auch ob sie irgendwie hilfreich ist, weiß ich nicht. Es ist halt einfach so.
Es geht darum, wie ich darauf reagiere, wenn es so laut wird, dass ich selbst auch nur noch laut herumbrüllen müsste, um mich noch verständlich zu machen: Das tue ich im Normalfall nicht, sondern ich gehe weg. Auf der rein physischen Ebene ist das die Situation in der Kneipe, in der man sich eigentlich gut unterhält. Dann aber glaubt jemand, dass es jetzt wirklich an der Zeit sei, die Musik doppelt so laut aufzudrehen, was dazu führt, dass alle, die gerade miteinander reden, anfangen müssen, sich anzuschreien. Was wiederum dazu führt, dass nicht nur laute Musik läuft, sondern ein massiver, durchgehender Geräuschteppich aus lauten Stimmen entsteht.
Das ist der Moment, an dem ich gehe. Oder wenn ich grade nicht gehen kann oder will, nichts mehr sage - ich höre ja eh nichts mehr sinnvolles ausser der ununterbrochenen Geräuschbrandung.
Warum erzähle ich das, außer dass es halt eine Verhaltensweise beschreibt, von der ich ausgehe, dass sie nicht so selten ist? Naja, ich beobachte ja auch, wie sich verändert, was, wie, wann, wohin und warum ich ins Internet schreibe. Und natürlich fällt mir auf, dass ich früher mehrmals am Tag Dinge ins Blog schrieb, mir viel mehr öffentlich Gedanken über tagesaktuelle Themen machte (oder zu manchen schien) und trotz dessen, dass ich mehr schrieb, alles viel plauderhafter gewesen ist.
Natürlich hat sich einiges von dem, was ich früher ins Blog geworfen habe, auf Twitter und Facebook und sonst wo hin verschoben. Aber auch dort schreibe ich ja inzwischen wesentlich weniger als noch vor ein paar Jahren. Und das geht grade nirgendwo anders hin, jedenfalls nirgendwo, wo man öffentlich was davon sieht. Allerdings: Das Plaudern, das ist wieder da, spielt sich aber komplett in einem anderen Format ab, nämlich drüben im Podcast. Da rede ich mit meinem Bruder oder mit Jan und das klappt wunderbar, weil da muss ich ja nicht laut sein oder die Umgebung übertönen. Und schon kann ich wieder reden.
Aber auf Twitter und Facebook halte ich inzwischen - im Vergleich zu früher - immer mehr die Klappe. Facebook ist immer noch gut, um ein bisschen seine Veranstaltungen zu koordinieren und mit den FreundInnen im lockeren Kontakt zu sein, aber es erinnert mich seit ein zwei Jahren an die Kneipe mit der zu lauten Musik und den Leuten, die sich glauben, anschreien zu müssen, damit sie sich gegenseitig noch hören können.
Natürlich schaute ich mir an, ob ich mich vielleicht insgesamt nicht mehr so viel mit Themen beschäftige, die mir mal so wichtig waren, dass ich Blogs und Social Media damit vollgeschrieben habe und stellte fest, dass das nicht stimmt. Ich schreibe nur nicht mehr drüber. Aber ich rede wieder mehr. Es ist, als ob ich vor 20 Jahren zum Reden ins Internet gegangen bin, weil ich Schwierigkeiten hatte, mit diesen lauten Menschen zu kommunizieren und jetzt gehe ich wieder zu den Menschen zurück, weil mir das Internet zu laut geworden ist.
Ich rede nicht weniger über Politik, Kultur, Musik, Gesellschaft und Stuff. Aber ich schreibe das nicht mehr "für alle" auf, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, dass das gelesen wird. Es ist zu leise, zu unspektakulär, nicht laut genug dafür, im momentanen Geräuschpegel des Internets wahrgenommen zu werden. Und anfangen zu brüllen werde ich hier genausowenig wie in zu lauten Kneipen. Ich schreibe keine Rants, ich mag nicht polarisieren, ich greife niemanden persönlich an, nur um dadurch die Spannung zwischen ihm und anderen zur Steigerung der Aufmerksamkeit zu nutzen. Deswegen hab ich auch keine Awards, nehme ich an, und find ich auch ok, weil Preise natürlich keine Anwesenheitsnote sind. Es ist allerdings nicht etwa so, dass ich nicht weiß wie es geht. Ich weiß ja auch, wie man in einen lauten Raum brüllt. Ich hab nur keine Lust dazu.
Da gehn wir lieber mal vor die Tür zum Quatschen, aber eben nur wir beide.
3 Kommentare
Aus ähnlichen Gründen verlasse ich ja gerade Facebook komplett.
Mir geht noch etwas anderes durch den Kopf. Du hast doch beruflich auch (mindestens indirekt) mit Onlinemarketing zu tun. Sieht es da ähnlich aus, dass die Marketer wie beim Wochenmarkt versuchen, sich gegenseitig zu überbrüllen?
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]
Jein, beim “Performance Marketing” (wie ich diesen Begriff hasse!) nützt überbrüllen wenig, es sei denn, Du hast Geld und es ist Dir egal, wieviel es kostet, ein mal in der Timeline von jemandem aufzutauchen. Grund ist, dass der Display oder Klickpreis rasant ansteigt, je mehr Du versuchst, deinen Content durchzudrücken. Jeder Nutzer, der die Anzeige nach dem zweiten mal sehen genervt ausblenden lässt, macht sie für den nächsten teurer.
Das zum einen. Zum anderen: Plattformen erhöhen die Werbefrequenz nicht, nur weil eventuell mehr Leute für ihre Werbung zahlen wollen. Ein Vorteil ist, dass “relevante” Werbung (also wo eher eine kleine Zielgruppe angesteuert wird und auch für sie zugeschnittenen Content bekommt) bevorzugt wird.
Aber was natürlich passiert ist, dass zB die Menge des Creep-Contents steigt. Kennste sicher: Das T-Shirt mit deinem Beruf oder dem Geburtsmonat oder sonst einem Detail, das ganz offensichtlich auf eine private Info zielt. Oder, dass Werber immer krassere und auffälligere Inhalte herstellen, um in der kurzen Aufmarksamkeitsphase beim runterscrollen trotzdem sofort gesehen zu werden. Das führt zu einer anderen Art der “Lautstärke” als die der ständigen Dauerwiederholung.
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geht mir grad ähnlich… :-(