Induktion und Deduktion
Ich bin ja meistens bei Sascha Lobos Kolumnen weitgehend bei ihm, aber bei der aktuellen finde ich, springt er mit seiner Klage gegen Exzessurteile arg kurz.
Einmal ist es so, dass vom Extrem auf das Allgemeine geschlossen wird, ein Medienphänomen ist, das wir in etwa über die letzten 20 Jahre internalisiert haben und irgendwie gar nicht mehr in Frage stellen. Diese Logik, die versucht, ein Bild der Gesamtheit aus der Betrachtung von Einzelphänomen zu ermitteln nennt sich Induktion (im Gegensatz zur für die Bewertung einer Gesamtbetrachtung einer Situation eigentlich notwendigen Deduktion - also die Ableitung des relevanten Details aus der Analyse des Gesamtbildes) und ist per se schon meistens eine logische Fehlleistung, wie David Hume schon vor sehr langer Zeit festgestellt hat.
Die allerdings in der Kombination mit der reinen Betrachtung der Extreme und damit der nicht mal mehr versehentlichen Eliminierung der tatsächlichen empirischen Verhältnisse und Bandbreite gekoppelt - was Journalist*innen gerne "Zuspitzung" nennen - führt zu einer oft hyperventilierenden, weil völlig übertriebenen und verzerrten Fehlwahrnehmung und -beschreibung der Realität. Wenn man sich zB im Fall der Coronamaßnahmen die tatsächlichen Verhältnisse anschaut (75-80% der Menschen sind für Pandemiemaßnahmen und mehr und mehr davon gehen sie nicht weit genug, 20 -25% gehen sie zu weit) und dann schaut, wie die mediale Interpretation uns dennoch ständig als eine unvereinbar gespaltene Gesellschaft beschreibt, ist die Diskrepanz ja immens.
Das funktioniert so nur deswegen, weil man die jeweiligen (wahrscheinlich sogar immer noch zu hoch angesetzen) 10% "radikalen Gegner" und 10% "radikalen Befürworter" in der journalistischen "Zuspitzung" als eine 50:50 Ratio betrachtet und beschreibt, aber die 80% dazwischen ignoriert.
Wenden wir Deduktion an, dann erkennen wir das eigentlich viel wichtigere Detail, nämlich, dass sich die Ablehnung der Maßnahmen seit über einem Jahr gar nicht groß verändert hat - die ist nämlich stabil zwischen 20% und 25%. Was sich aber verändert ist der Anteil derer, denen die Maßnahmen nicht ausreichen. Das waren nämlich erst 15%, dann 20%, dann 35% und inzwischen gut 50%. Es geht also in Wirklichkeit gar nicht darum, dass man einen Kompromiss zwischen "zu wenig" und zu viel" finden muss. Denen, denen das "zu viel" ist, ist ohnehin immer alles zu viel und da hilft auch kein Kompromiss. An dieser Gruppe ändert sich auch nichts. Wenn wir also wirklich daran interessiert sind, wo eine Diskussionsline verläuft und wo es wachsende Unzufriedenheit gibt, müssen wir ganz woanders hinsehen. Und diese Stelle ist gar nicht so schwer zu finden, wenn wir deduktiv rangehen statt induktiv.
Wir haben uns aber offenbar schon so sehr daran gewöhnt, dass wir inzwischen ebenfalls viel zu oft induktive Logiken anwenden statt deduktive. Das ist schade, denn gerade diejenigen, die sich in ständiger Alarmstimmung befinden und darunter auch leiden, könnten hier prima ihre selbstgemachte, völlig unnötige Misantropie, in die sie sich dadurch manövriert haben, abbauen.
2 Kommentare
Kommentar von: Timo Ollech [Besucher]

Kommentar von: jensscholz [Mitglied]

Ist im Text verlinkt. ARD Deutschlandtrend fragt seit Monaten alle 4 Wochen nach der Zufriedenheit mit den Maßnahmen. Aber hier gerne noch mal: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2575.html
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“75-80% der Menschen sind für Pandemiemaßnahmen und der Mehrheit davon gehen sie nicht weit genug, 20 -25% gehen sie zu weit”
Woher hast du diese Zahlen? Die halte ich für ein Gerücht.