Das Nostalgieproblem - also die Annahme, dass früher alles besser war - wird in diesem Video recht gut erklärt. Ich möchte aber eine Ergänzung hinzufügen, da es 2x wirklich ganz kurz davor ist, eine wesentliche Erkenntnis zu formulieren, aber dann nicht dort hingelangt - vor allem, weil am Schluss die Frage gestellt und offen gelassen wird, ob es nicht vielleicht doch so ist, dass die derzeitigen Kritikpunkte über neue Medien doch valide sind.
Die Antwort ist: Ja, sie sind valide, aber das waren die Punkte von früheren Medienkritiken, die er im Video auflistet, zu ihrer Zeit auch und hier ist die Erkenntnis, die im Video zwar offen vor uns liegt, aber nicht benannt wird: Es sind nicht die Medien selbst - also ihre Technik und Mechanismen -, die problematisch sind, denn die sind ja offensichtlich austauschbar. Es ist der Lern- und Adaptionsprozess, um mit Medien umzugehen, wenn sie sich verändern oder neu entstehen. Ob es Bücher waren, dann Filme, Radio, Fernsehen, Computerspiele und die gesamte Bandbreite an medial gestützen Interaktions/Konversationsmitteln: Es musste und es muss auch weiterhin immer die Kompetenz entwickelt werden, diese zu nutzen und das Ungleichgewicht zwischen Sendern und ihren Möglichkeiten und Empfängern und ihren Fertigkeiten auszugleichen.
Der Autor des Videos fällt am Ende ein bisschen auf genau die Effekte herein, die es vorher beschreibt (und er vermutet das ja sogar, weiß aber nicht genau, warum), denn er ist heute im Umgang mit den aktuellen Medien in einer anderen Situation als im Umgang mit den Medien, mit denen er aufgewachsen ist. Für die hat er nämlich ein Verständnis in einer Zeit entwickelt, in der er nicht bewusst darüber nachgedacht hat, dass er das überhaupt tut.
Das ist aber dieselbe Situation die Kinder, Jugendlichen und junge Menschen heute durchleben und da er ja zuvor schon herausgearbeitet hat, dass es vor allem ein Problem der älteren Generationen ist, deren Erfahrungen auf Veränderungen nicht mehr anwendbar sind, könnte er dennoch sehen, dass so, wie er damals ein "natürliches" Verständnis für die Medien seiner Jugend entwickelt hat, dasselbe für die jüngeren Generationen heute gilt.
Und wenn er diese vor manipulativen Algorithmen, Fakenews und Suchtspiralen warnt, ist das zwar valide - denn wie gesagt: die gibt es - aber die Gefahr ist am Ende dieselbe wie die Suizidgefahr durch "Die Leiden des jungen Werther", das sich verlieren in Traumwelten durch Dungeons&Dragons, das Abgleiten in geschlossene Subkulturen durch Heavy Metal Musik oder die Reizüberflutung durch 50 Fernsehkanäle statt nur dreien.
Und so ist es genau, wie er sagt: Am Ende warnt er die falschen vor viereckigen Augen, denn wirklich lernen, mitzukommen müssen die älteren Generationen. Und das ist die Erkenntnis, die fehlt: Wir könnten das gut, wenn wir uns die Kompetenzen der jungen Menschen abschauen würden. Aber das ist nicht so leicht, wenn wir glauben, dass wir diejenigen sind, die schon alles wissen und den Jüngeren beibringen müssen, mit Medien umzugehen.
(Und als empirischen Beweis dafür möchte ich gerne mal darum bitten, nachzusehen, aus welchen Alterskohorten diejenigen wohl kommen, die ständig wütend und unreflektiert unter all die Klickbait-Artikel kommentieren und jede noch so offensichtlich falsche Fake-News teilen).
Man fragt sich ja oft, wie ein bestimmter Menschenschlag es schafft, mit der erstaunlich egoistischen Weltsicht durch die Welt zu gehen, dass Regeln für sie nicht gelten, sondern nur für alle anderen.
"(...) Es dominiert eine typische Anspruchshaltung, gepaart mit einem oft eklatanten Mangel an Mitgefühl, rascher Kränkbarkeit und Neigung zu Schuldzuweisungen. Darüber hinaus besteht eine Tendenz zu bedrohlichem und aggressivem Verhalten und einem erhöhten Delinquenzrisiko." (Delinquenzrisiko = Neigung zu Straftaten).
Wichtig ist, dass ich absolut nicht der Meinung bin, diese Menschen seien alle Narzissten. Aber ihre Verhaltensweisen erscheinen klar narzisstisch und daher würde ich vermuten, dass es systemisch Voraussetzungen & Prozesse gibt, die uns Menschen anfällig dafür macht, narzisstische Denkmuster und Verhaltensweisen zu entwickeln.
Eine davon wird in der Argumentation der Titelperson auch offenbar: Falschparken sei ja erlaubt. Das heißt: Man kann sich daran gewöhnen, dass etwas, das verboten ist, als erlaubt wahrgenommen wird, wenn es nicht geahndet wird. Wenn dann plötzlich doch durchgegriffen wird, ist man empört: Denn die Wahrnehmung ist nicht "Es ist verboten, aber bisher hatte ich Glück und ab jetzt muss ich mich eben an die Regeln halten." sondern "Die Regel wurde für mich aufgehoben, also ist es ungerecht und willkürlich, sie mir jetzt wieder aufzuerlegen".
Beim Falschparken ist das noch etwas amüsant, aber wir sehen derzeit an vielen Stellen wo es scheinbar eine gesellschaftliche Gruppe gibt, die ein sehr eingeschränktes Unrechtsbewusstsein hat und da ist es gar nicht mehr lustig: Wenn es um Steuerhinterziehung, Spekulationsbetrug, Korruption, aber auch um Vergewaltigung, Missbrauch und Nötigung geht, fallen uns diese Menschen immer wieder auf.
Was allen gemeinsam ist: sie sind wohlhabend, erfolgreich und haben eine gewisse Macht. Also eine Position, in der sie sehr gut abgesichert sind sich sehr einfach vom Rest der Gesellschaft abkoppeln und fernhalten können. Solche Leute haben also viel weniger Berührungspunkte mit dem System und seinen Regeln als Menschen, die Bezüge erhalten oder unter höherer Beobachtung durch Ämter und ahnlichen Apparaten - zb Krankenkassen - stehen (Migrant*innen, Frauen, Behinderte).
Und sie beginnen irgendwann, Regeln als externe Mechanismen zu betrachten, die für all die anderen Menschen, mit denen sie ebenso nichts zu tun haben, zuständig sind. Wenn daher plötzlich Regeln auf sie angewendet werden, die in ihrer Welt für eine andere Klasse Menschen gilt als ihre, reagieren sie empört, selbst wenn es nur um 50 Euro geht: Es geht aber nicht um das Geld, sondern um die Kränkung, dass man behandelt wird wie eine Schicht, zu der man nicht gehört.
Und das ist etwas, was ein System befördern oder verhindern kann. Zum Beispiel, indem man Menschen nicht zeigt, dass einem sofort 40 Euro von seinem Hartz4 gestrichen wird, wenn er seinem Kind ein 9-Euro Ticket kauft und gleichzeitig dem SUV-Fahrer, der auf dem Radweg parkt, die 50 Euro nicht abnimmt, die dem System eigentlich zustehen. Denn wenn Regeln gelten vor allem für die Schwachen gelten, dann glauben die Starken nicht fälschlicherweise, dass sie über dem Gesetz stehen sondern es ist tatsächlich so der Fall. Und so entstehen dann die narzisstischen Verhaltensmuster, denn das System bildet eine narzisstische Welt ab. Und wir alle müssen höllisch aufpassen: Wenn wir selbst mal irgendwie reich und wohlhabend werden sollten ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir uns schneller in den oben gezeigten Herrn verwandeln werden, als wir glauben.
1. die (m.E. gar nicht mal so reflektierte) Grundthese, dass jemand, der alle Möglichkeiten nutzt, um etwas zu bekommen, ohne dafür zahlen zu müssen, plötzlich all das zahlen würde, wenn man ihm die Möglichkeit nimmt, es umsonst zu bekommen.
Erstaunlicherweise ist das aber nicht der Fall - und das ist auch schon lange bekannt -, denn Menschen, die viele Bücher leihen, sind auch die, die viele Bücher kaufen (wenn sie sie sich leisten können) und wenn ich dafür sorge, dass es schwerer wird, Bücher zu leihen, sinkt die Zahl der gelesenen Bücher und steigt nicht die Zahl der gekauften.
2. die (m.E. ebenfalls gar nicht so reflektierte) Gleichsetzung von allem was "Gratis" ist und allen, die "Gratisangebote" nutzen.
Es gibt zig Gründe, sich Bücher zu leihen und jede Menge Wege, Dinge zugänglich zu machen, die anders funktionieren als "ein individueller Verkauf eines Mediums an eine Person". All das wird aber zusammengeworfen und durchgemischt, bis das Stehlen eines Buches im Buchladen und die Nutzung einer Bibliothek dasselbe geworden ist.
Und warum ein Déjà vu?
Weil diese Diskussion im Prinzip eine Reprise der Diskussion von Anfang der 2000er ist, als jede Menge Musikverlage und deren Musiker:innen sich mit Hörer:innenbeschimpfung ihre Fans vergraulten, indem sie über die "Gratiskultur" jammerten. Auch damals sind diese rein anekdotischen Empörungserzählung klar widerlegt worden, zB damit, dass es die Menschen sind, die sich Songs und Alben herunterladen, die bei weitem mehr Geld für Musik ausgaben, als Menschen die das nicht taten (denen reichte nämlich das Radio) und dass Musiker und Bands schneller bekannt wurden und deren Verkäufe auch messbar stiegen, sobald sie beliebter in den damaligen Tauschbörsen waren.
Insofern dürfte diese ganze Diskussion so enden wie damals auch schon: die digitalen Distributionswege werden durch Verlage so lange ausgebremst wie möglich (da der Profit von physischen Medien wesentlich höher ist), dann übernehmen Techfirmen das Geschäft komplett (zT haben sie es ja schon, weil die Verlage ja keine Lösung anbieten, werden die halt am Ende ebenso wie die Musikverlage zu reinen Contentlieferanten degradiert) und die sinkenden Margen werden den Autor:innen weitergegeben, denen man was von bösen Raubkopierer:innen erzählt oder dass man Millionen durch Leihbüchereien verlöre. Am Ende waren die Musiker:innen die gearschten, vor allem die, die am Ende von den Verlegern über den Tisch gezogen wurden, weil die die Künstler:innen bei der Digitalverwertung einfach mal richtig krass ausgebootet haben.
Ich sehe, wie das mit Autor:innen gerade ganz genauso passiert. Denn wieder erzählen Verlage ihren Autor:innen, dass die bösen Rezipienten Schuld seien. Dabei werden Jahr für Jahr immer mehr Medien verkauft als zuvor, obwohl sie gleichzeitig einfacher zu kopieren sind. Dass von den Verkäufen eben nicht mehr so viel bei den Erzeugern ankommt, den Leser:innen und Hörer:innen in die Schuhe zu schieben ist schon ein Kunststück.
Ich hatte eine ähnliche Beobachtung schon mal vor gut 10 Jahren bei einigen Piraten bzw in der Nerdkultur gemacht, wie jetzt bei einigen Menschen, die sich in ihrer Eigenwahrnehmung wahrscheinlich als Vertreter von "Alternativen Lebensweisen" betrachten: Ein signifikanter Anteil der Menschen aus Milieus, die es in der Gesellschaft schon mal eine längere Zeit sehr schwer hatten, akzeptiert zu werden und deren Situation und Status sich durch die positiven Entwicklungen der letzten Dekaden verbessert hat, verwandeln sich in diejenigen, die sie vorher mit Intoleranz und überheblichem Spott verletzt und diskriminiert haben, statt selbst solidarisch mit anderen zu sein.
Ich glaube daher, dass es für Menschen aus Gruppen, für die sich eine lange Zeit der gesellschaftlichen Kränkung auflöst, mehrere Reaktionen gibt, nämlich mindestens drei.
Die harmloseste ist, dass sie die Erleichterung nutzen, um endlich in Ruhe leben zu können.
Das habe ich oft erlebt, als ich Menschen vor einigen Jahren, als ein bestimmter Webdienstleister kleine Unternehmen in Knebelverträgen festhielt, half und wenns geklappt hat, nahezu immer sofortige Funkstille eintrat - die wenigsten haben sich daran beteiligt, anderen zu helfen, die noch in derselben Situation steckten, wie sie sie erfahren hatten. Ich kann das sogar nachvollziehen: Man möchte die schlechte Erfahrung einfach hinter sich lassen und vergessen. Es ist zwar Schade und man müßte eigentlich und überhaupt, aber warum ich?
Eine weitere Möglichkeit ist, dass sie diese Erfahrung nutzen, um sich nun mit anderen Gruppen, die noch immer diskriminiert und gekränkt werden, zu solidarisieren, da sie das Muster wiedererkennen, unter dem sie aus anderen Gründen gelitten haben. Das ist natürlich das beste Ergebnis, da das dazu führt, dass sich nach und nach auch was verbessert, und zwar nachhaltig. Wobei das ja nicht nur ein netter Zug anderen gegenüber ist, sondern auch die eigene Position stabilisiert - man sieht ja seit einigen Jahren, wie fragil freie Gesellschaften werden, sobald Populisten Minderheiten doch wieder als Sündenböcke benutzen.
Aber es gibt eben auch diejenigen, die die Prozesse nicht hinterfragen sondern sich so tief im gelernten System eingegraben haben, dass diese Erkenntnis ausbleibt. Dann übernehmen sie - weil sie sich nun in derselben Privilegiensituation befinden wie ihre Peiniger - genau dieselben Verhaltensweisen, nur nicht mehr als Opfer sondern als Täter. Denn die Prägung ist ihre einzige Realität. Ihr Problem war nicht, dass sie in einem System von Unterdrücker:innen und Unterdrückten leben, sondern nur, dass sie die Unterdrückten waren und auch nur Unterdrücker:innen sein wollen. Sobald sie die Seiten gewechselt haben, haben sie, was sie wollten. Nicht etwa Gerechtigkeit, sondern Macht und leider ist der Wille, diese Macht um jeden Preis zu behalten, dann so groß, dass sie zu intoleranteren, fanatischeren Unterdrücker:innen werden, als die, die in diese Privilegien hineingeboren wurden.
So kommt es, dass Nerds frauenfeindliche Chauvis sind oder Immigrant:innen gegen Flüchtlinge hetzen oder Feminist:innen trans Menschen unsichtbar machen wollen oder eben, dass Hippies mit Nazis auf Demos gehen. Der Vorgang ist derselbe: Hinter sich wird die Tür zugemauert.
Das eine positive daran ist, dass der Anteil derjenigen, die die letztere Entwicklung machen, die Minderheit ist. Das zweite vielleicht an irgendeiner Stelle zumindest teilweise positive ist, dass es bedeutet, dass Menschen sich am Ende doch viel ähnlicher sind als man glaubt.
Ein Lesetipp zum Thema Gendersprache, der mal sehr genau erklärt, warum ich immer sage "der Zug ist da schon längst abgefahren: Es geht schon lange nicht mehr darum, ob gegendert wird oder nicht. Es wird gegendert, die Frage ist nur noch, wie":
Der Zug ist losgefahren, und da kann sich Friedrich Merz jetzt Sorgen machen, oder Herr Ploß kann das verbieten, und Sigmar Gabriel kann vorschlagen, dass nicht die Union, sondern der Rat für deutsche Rechtschreibung unsere Sprache weiterentwickeln soll... Nichts davon ist in irgendeiner Form außerhalb der Politik und des Wahlkampfs relevant, und nichts davon wird irgendeinen Einfluss darauf haben, wie es sprachlich weitergeht. Wir können nicht mehr zurück auf Los, der Fisch ist gegessen. Nichts davon berührt in irgendeiner Form die Grammatik des Deutschen abseits des Erwartbaren, und nichts davon lässt Linguist:innen nachts im Bett unruhig hin und her rollen.
Zu diesem schönen Artikel, der aus sprachwissenschaftlicher Sicht auf das Gendern schaut, hab ich auch noch eine Ergänzung. Ich möchte gerne auf den Vorwurf der "Sprachverhunzung" eingehen, der ja unweigerlich auftaucht, sobald irgendwo über Genderformen in der Sprache gesprochen wird.
Es gibt aus sprachwissenschaftlicher Sicht keine "Verhunzung" von Sprache. Es gibt nur Sprachevolution. Diese "Verhunzung" ist eine rein subjektive und emotionale Wahrnehmung. Wo die eigentliche Herkunft dieser Emotion auch klar verortet werden kann: Es handelt sich um ein Unwohlsein damit, dass etwas, womit wir aufgewachsen ist, sich so sehr ändert, dass es im Kern verschwindet - oder wir das Gefühl haben, es verschwindet und dass damit ein Teil unseres Lebens ausgelöscht wird. Deswegen übrigens ist auch wurscht, ob eine "Mehrheit" das ablehnt. Das ist ja ganz einfach der Demografie geschuldet - die Mehrheit ist halt älter und je älter man wird, desto weniger mag man Veränderung und reagiert, euphemistisch ausgedrückt, nostalgisch.
Das Anquengeln gegen Gendern entspringt nämlich demselben Veränderungs-Schmerz, den wir verspürten, als die Postleitzahlen fünfstellig wurden oder die D-Mark abgeschafft wurde. Letztendlich ist aber nichts objektiv schlechter daran, es machte und macht die jeweiligen Dinge nur anders und löste und löst damit jeweils ein faktisches Problem, das in der alten Form und Vorgehensweise nur mit zusätzlichen umständlichen Workarounds oder gar nicht zu lösen war.
Insoweit sage ich immer, ich verstehe die Emotion, denn es ist schon krass, wenn Veränderungen einen Teil der eigenen Prägung in der Vergangenheit zurücklassen, weil sie in Zukunft keine Rolle mehr spielt oder sehr viel anders gilt/gehandhabt wird.
Aber wir haben die vierstelligen Postleitzahlen, die D-Mark oder - noch ein Beispiel - die DDR auch nicht behalten, damit Menschen, die damit aufgewachsen sind, sich nicht unwohl fühlen.
Daher bekommen Leute, die ihrer Sprache nachtrauern, von mir durchaus ein wenig Verständnis. Aber auch nicht mehr.
Die Anpassung der Sprache an neue Anforderungen daran ist nämlich wichtiger und by the way auch unvermeidbar und Nostalgie (denn darum handelt es sich am Ende) ist kein objektiver und sachbezogener Grund, objektive und sachbezogene Schritte wie zB gesetzliche Verbote für Sprachformen zum "Schutz" eines veralteten Status Quo zu beschließen, wie sie drolligerweise sich für ach so liberal haltende FDP-Herrschaften derzeit gerne fordern.
Diese Art der populistischen Erhöhung von Nostalgie als Politik gibts aber schon immer und ich seh sowas als relativ normalen Ausdruck von Fortschrittsschmerzen mit denen wir ständig leben und deren Lautstärke mit unserer Demografie zusammenhängt: Es gibt halt mehr alte Menschen als junge in der Gesellschaft. Es ist also genauso müßig, die zu beklagen.
Am Schluss noch ein Funfact, das vielleicht ein wenig erklärt, worüber wir hier eigentlich sprechen und warum die Frage, ob und warum irgendwas sich nicht ändern darf, außerhalb der ganz persönlichen Erlebens kein relevantes Thema ist: Auch ich fand die Umstellung der Postleitzahlen von 4 auf 5 Stellen damals schrecklich. Denn die vierstelligen Postleitzahlen waren die natürliche Ordnung, weil es sie schon gab als ich geboren wurde. Das war 1968. Lustigerweise fand ich aber irgendwann heraus, dass es das vierstellige Postleitzahlen-System bei meiner Geburt gerade mal 6 Jahre gab, denn es wurde erst 1962 eingeführt. Die fünfstellige Postleitzahl - eingeführt 1990, also 28 Jahre nach der Einführung der vierstelligen Postleitzahl - ist jetzt im 31. Jahr und existiert somit schon jetzt länger, als es die 4-stellige gegeben hat.
Ich bin ja meistens bei Sascha Lobos Kolumnen weitgehend bei ihm, aber bei der aktuellen finde ich, springt er mit seiner Klage gegen Exzessurteile arg kurz.
Einmal ist es so, dass vom Extrem auf das Allgemeine geschlossen wird, ein Medienphänomen ist, das wir in etwa über die letzten 20 Jahre internalisiert haben und irgendwie gar nicht mehr in Frage stellen. Diese Logik, die versucht, ein Bild der Gesamtheit aus der Betrachtung von Einzelphänomen zu ermitteln nennt sich Induktion (im Gegensatz zur für die Bewertung einer Gesamtbetrachtung einer Situation eigentlich notwendigen Deduktion - also die Ableitung des relevanten Details aus der Analyse des Gesamtbildes) und ist per se schon meistens eine logische Fehlleistung, wie David Hume schon vor sehr langer Zeit festgestellt hat.
Die allerdings in der Kombination mit der reinen Betrachtung der Extreme und damit der nicht mal mehr versehentlichen Eliminierung der tatsächlichen empirischen Verhältnisse und Bandbreite gekoppelt - was Journalist*innen gerne "Zuspitzung" nennen - führt zu einer oft hyperventilierenden, weil völlig übertriebenen und verzerrten Fehlwahrnehmung und -beschreibung der Realität. Wenn man sich zB im Fall der Coronamaßnahmen die tatsächlichen Verhältnisse anschaut (75-80% der Menschen sind für Pandemiemaßnahmen und mehr und mehr davon gehen sie nicht weit genug, 20 -25% gehen sie zu weit) und dann schaut, wie die mediale Interpretation uns dennoch ständig als eine unvereinbar gespaltene Gesellschaft beschreibt, ist die Diskrepanz ja immens.
Das funktioniert so nur deswegen, weil man die jeweiligen (wahrscheinlich sogar immer noch zu hoch angesetzen) 10% "radikalen Gegner" und 10% "radikalen Befürworter" in der journalistischen "Zuspitzung" als eine 50:50 Ratio betrachtet und beschreibt, aber die 80% dazwischen ignoriert.
Wenden wir Deduktion an, dann erkennen wir das eigentlich viel wichtigere Detail, nämlich, dass sich die Ablehnung der Maßnahmen seit über einem Jahr gar nicht groß verändert hat - die ist nämlich stabil zwischen 20% und 25%. Was sich aber verändert ist der Anteil derer, denen die Maßnahmen nicht ausreichen. Das waren nämlich erst 15%, dann 20%, dann 35% und inzwischen gut 50%. Es geht also in Wirklichkeit gar nicht darum, dass man einen Kompromiss zwischen "zu wenig" und zu viel" finden muss. Denen, denen das "zu viel" ist, ist ohnehin immer alles zu viel und da hilft auch kein Kompromiss. An dieser Gruppe ändert sich auch nichts. Wenn wir also wirklich daran interessiert sind, wo eine Diskussionsline verläuft und wo es wachsende Unzufriedenheit gibt, müssen wir ganz woanders hinsehen. Und diese Stelle ist gar nicht so schwer zu finden, wenn wir deduktiv rangehen statt induktiv.
Wir haben uns aber offenbar schon so sehr daran gewöhnt, dass wir inzwischen ebenfalls viel zu oft induktive Logiken anwenden statt deduktive. Das ist schade, denn gerade diejenigen, die sich in ständiger Alarmstimmung befinden und darunter auch leiden, könnten hier prima ihre selbstgemachte, völlig unnötige Misantropie, in die sie sich dadurch manövriert haben, abbauen.
Seit fast 10 Jahren erzähle ich, dass immer mehr Menschen - und darunter eben lange nicht mehr nur die jungen - diese lähmende Progressionsbremse durch unsere bewegungslose Verwaltungsregierung über haben und die erste Partei, die zumindest mal die Bereitschaft zeigt, diese zu lösen, davon profitieren wird. Ich hatte das zwischenzeitlich so ein bisschen tatsächlich auch wieder der SPD zugetraut - speziell wegen Frau Esken - aber die interne Lähmschicht sitzt da einfach zu fest und erstickt alle Versuche im Keim.
Jetzt sinds also die Grünen.
Was ich auch schon lange erzähle ist, dass "Konservativ" nicht "politisch Rechts" ist und dass es wesentlich mehr konservative Menschen gibt als Rechte. Warum also so viele Parteien - und mit Wagenknecht inzwischen selbst Die Linke - sich so an rechtsextreme Positionen (Rassismus, Nationalismus, Sozialdarwinismus, Autoritarismus) ranschmeißt, ist mir nur so erklärbar, dass man die große Zielgruppe der Konservativen ansprechen will, die aber mit Rechten verwechselt. Wir wissen aber eigentlich, dass antidemokratische rechte Positionen seit den 60ern stabil von maximal 20% der Bevölkerung geteilt werden und somit selbst wenn die alle wählen gehen würden, nie eine signifikante Mehrheit darstellen werden.
Dass zB Naturschutz und eine gesunde, stabile Zukunft für unsere Kinder, humanistische Werte und eine pluralistische Gesellschaft durchaus auch Teile eines konservativen Weltbildes sind und sich das direkt mit den typischen rechten Weltuntergangs- und Verschwörungskulten beißt, scheint irgendwie nicht aufzufallen (und ist btw. auch der Grund, warum auch Linke rassistische und autoritäre Parolen schwingen können ohne sich dabei konservativ zu fühlen).
Nun machen die Grünen einfach mal genau diesen humanistisch-konservativen Chancenraum auf und schon gehen die Zahlen hoch. Ich finde das nicht überraschend (wie gesagt, dass viel mehr Menschen auf sowas warten als auf rechten Populismus vermutete ich ja schon länger und mein Beweis war das kurze, aber helle Aufflackern der Hoffnung, als Schulz für einen Moment diese Tür aufmachte - aber dann wieder schloss).
Aber ich freu mich, dass es jetzt so aussieht, als ob sich was bewegt. Verhalten. Verkackt das jetzt nicht.
Ich bin ein großer Verfechter von Pluralismus. Viele meiner Blogeinträge handeln davon, nicht in binäre Logik zu verfallen, ein "und" statt ein "oder" zu denken und dass mehrere Lösungen erlaubt und richtig sind, weil Probleme eben viel öfter mehrere Lösungen haben als nur eine. Und wenn man weiß dass es nicht nur einen Weg zum Ziel gibt, kommt man schneller an.
Oft wird die Erkenntnis, dass Dinge mehrdeutig sind, als Belastung und als anstrengend betrachtet. "Kann denn auch mal was einfach und eindeutig sein?" hört man durchaus häufiger in letzter Zeit. Bzw liest diese pseudophilosophischen Bildchen, die genau das propagieren; dass mit genug Abstand alles ganz einfach sei.
Ich meine, dass das Gegenteil der Fall ist und die vermeintliche Anstrengung nur daher kommt, weil wir hier gegen eine etablierte Konvention angehen. Es ist halt nichts einfach, selbst wenn ich alles schön schwarz-weiß male. In diesem Fall funktioniert eine Lösung nur, wenn ich 100% Zustimmung dafür bekomme oder ich so viel Macht habe, dass ich mich über die Verfechter*innen der anderen Seite hinwegsetzen kann. Das ist viel anstrengender und frustrierender (weil man in einer Welt in der es nur gewinnen oder verlieren gibt selbst bei einem Teilerfolg das Gefühl hat, gescheitert zu sein), als mir eine andere, weniger absolute Lösung zu überlegen. Dazu muss ich aber verstehen, dass es eben nicht nur zwei gibt.
Das zeigt auch auf, wieso populistische Parteien erstens niemals kompromissfähig sein werden und zweitens am Ende immer autoritär agieren müssen. Denn ihre absoluten Lösungen werden nie eine 100%ige Zustimmung bekommen, also brauchen sie so viel Macht, dass sie die Ablehnung unterdrücken können. Was an der populistischen Sicht auf Dinge so verführerisch ist: dass sie "einfache Lösungen" verspricht. Die funktionieren aber halt nicht - zB weil Ausländer eben nicht Schuld an Altersarmut sind und Populisten somit nur Hass oder Angst vor Einwanderern erzeugen, aber eben keine Lösung für Rentner*innen, wodurch die Altersarmut bleibt (oder gar steigt, denn Immigration junger Menschen würde sie ja sogar verhindern).
Heute schreibe ich mal wieder so wie bloggen früher war: Ein bisschen Nabelschau und Selbstreflexion, ein bisschen was über früher und heute.
Ich schreibe ja schon seit jeher viel auf - vor allem in Tagebüchern und Kalendern - und beim Herumblättern fand ich einige Themen, mit denen ich früher extrem viel gekämpft habe, die mich heute aber nicht mehr in Schwierigkeiten bringen (täten sie das immer noch, würde ich wahrscheinlich nicht darüber bloggen). Bei der Überlegung, was sich geändert hat, habe ich bemerkt, dass viele Eigenschaften, die früher für Probleme gesorgt haben, heute noch da sind, aber dass ich sie anders nutze. Drei davon hab ich für diesen Eintrag mal herausgegriffen:
1. Aversion gegen Wiederholungen
Das war diese eine Eigenschaft, die mich am längsten schlechter leben ließ: In der zweiten Klasse fiel meine Begeisterung für die Schule rapide ab, nachdem unsere Lehrerin ständig Diktate ansetzte und das schulische lernen, das ja vor allem auswendig lernen war, ist für mich fast körperlich schmerzhaft gewesen. Hausaufgaben habe ich selten gemacht, weil ich mich einfach nicht dazu durchringen konnte, Dinge, die im Unterricht schon mal besprochen und geübt wurden, stupide mit immer weiteren Varianten zu wiederholen. Ich habe nach dem Zivildienst im Krankenhaus gearbeitet und musste irgendwann aufhören, weil ich mich schon bei der Hinfahrt in einer verzweifelten Stimmung befand ob der Aussicht, jetzt einen ganzen Tag lang Dinge zu tun, die ich schon tausend mal gemacht habe. Ich würde (auch heute noch) auf keinen Fall irgendwo hin umziehen, wo ich schon mal gewohnt habe, weil ich das als schrecklichen Rückschritt empfinden würde.
Mit fortschreitendem Alter jedoch konnte ich feststellen, dass diese Aversion mir extrem zu Gute kommt. Da ich dieser schmerzhafte Repetitivität, die es nun mal hier und da immer gibt und geben wird, mit der Aufnahme von möglichst vielen Informationen entgegenwirke, bin ich immer über sehr viele Themen gut bis halbwegs gut informiert. Das schöne daran, dass ich das seit nunmehr Jahrzehnten tue ist, dass ich Entwicklungen und Prozesse nachvollziehen und erklären kann, von denen viele andere Menschen nur Bruchstücke kennen - ich habe völlig aus Versehen eine gut funktionierende Kontextdatenbank im Kopf und möchte gerne, dass sich alles immer weiterentwickelt, verbessert und voran kommt.
Der andere - noch viel wichtigere - Vorteil ist, dass ich mit fast 50 Jahren keine Angst vor Veränderung habe. Im Gegenteil, mir geht es gerade gar nicht schnell genug, ich ärgere mich über so viel Stillstand an Stellen, an denen eigentlich dringend was getan werden muss. Ich fühle mich so beweglich wie nie zuvor, auch weil ich aus dem eben erwähnten gesammelten und ständig aktualisierten und erweiterten Wissen die Sicherheit spüre, dass ich gut genug Bescheid weiß, um nicht nur mithalten zu können sondern sogar vieles von dem zu pushen, was mir wichtig erscheint. Es kommt nicht vor, dass ich wegen Veränderungen jammere oder auf die Bremse trete und ich denke, dass das auch den Beziehungen zu Gute kommt, die ich hatte und habe.
2. Gelassenheit
Wie kann das eine Eigenschaft sein, die einem Probleme macht? Nun, wenn man sie nicht erkennt und kanalisiert, hat man einen Menschen, der sich anscheinend über nichts richtig freut, der nie total überrascht ist, der anscheinend keinen Enthusiasmus zeigen kann und der viel zu spät "Oh, das freut mich." sagt, als dass das noch als spontane Reaktion rüberkommt und nicht als Pflichtschuldigkeit. Und es stimmt, ich war sehr lange nicht besonders gut darin, Begeisterung (oder andere Überschwänglichkeiten) zu zeigen, selbst wenn ich sie verspürt habe. Was das angeht, habe ich aber inzwischen Ausdrucksformen gelernt und nutze sie auch - ich würde mal sagen, dass das heute niemand mehr mit Interesselosigkeit oder Gefühlskälte verwechselt.
Das liegt auch daran, dass ich bei der Beschäftigung mit dieser Eigenschaft erkannt habe, dass meine Zurückhaltung auch gute Seiten hat und nicht nur mir, sondern auch anderen sehr helfen kann, denn sie bewirkt ein hohes Maß an sehr beruhigender Akzeptanz: Ich weiß, dass vieles schwierig ist. Ich habe einige Dinge, die mir täglich Sorgen machen. Ich habe Freundinnen und Freunde, denen es genauso oder zuweilen auch noch schlechter geht und es gibt diesen Punkt, an dem Angst und Panik überhand nehmen. Das passiert dann, wenn es immer wieder ein neues Problem gibt, nie ein Problem alleine auftaucht und weil es zuweilen wirklich haarig wird, wenn schon wieder neue Schwierigkeiten kommen, während man noch dabei ist, andere zu lösen oder mit ihnen klar zu kommen.
Meine Erfahrung nach nunmehr 49 Jahren ist: Dass es immer wieder neue Probleme gibt wird sich nie ändern. Das ist offensichtlich das Leben wie es ist. Diese Erkenntnis führte allerdings nicht dazu, zu verzweifeln, sondern dazu, es zu akzeptieren und das wiederum führte dazu, dass ich in meinen besten Momenten lächelnd im Chaos stehe und in Ruhe ein Problem nach dem anderen löse. Erst das wichtigste, dann die, die ich lösen kann. Und dann mache ich mir vielleicht mal Gedanken über die, die ich nicht lösen kann. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, ich habe nie Panik oder Ängste, aber ich kann sagen, dass Panik und Ängste mir nie dabei geholfen haben, Probleme zu lösen. Gelassenheit aber schon.
3. Introvertiertheit
Wenn ich diese Myers-Briggs Tests machen muss, kommt immer INTJ raus und mein Exchef wunderte sich darüber, weil er mich überhaupt nicht als "Introvertiert" eingestuft hat. Wegen Eigenschaft 1 konnte ich ihm erklären, dass es sich bei solchen Tests nicht um Persönlichkeitsprofile handelt und daher nicht das Verhalten bestimmt wird - das I und E in der Skala zeigt nur an, ob Interaktionen anregen oder stressen - und mich stressen sie. Nichtsdestotrotz mag ich sie inzwischen, weil ich mit der Zeit darin immer besser wurde und mein Beruf basiert inzwischen darauf, da mich der ständige bewusste Umgang damit und die damit lange Übung zu einem guten Beobachter und Berater gemacht hat.
Auch eins meiner wichtigsten Hobbies - das LARP - basiert darauf, sogar noch viel weitgehender als mein Beruf, denn im LARP geht es zum Teil darum, Extremsituationen zu provozieren und zu erfahren, was man im echten Leben niemals tun würde (was, wie ich gerade merke, eine Erweiterung der ersten Eigenschaft ist, denn mit der Zeit wiederholen sich natürlich auch emotionale Situationen).
Da sowas aber immer noch schnell meinen Energiehaushalt erschöpfen kann, habe ich gelernt, regelmäßig auf die Einhaltung von Abstand zu achten. Ich nutze dafür viele Auszeiten aber auch zum Beispiel diese Technik, die auch bestimmt in irgendwelchen Lebensratgebern beschrieben ist und bestimmt einen fancy Namen hat: Wenn ich merke, dass ich mit einer Situation nicht klar zu kommen drohe - ob im Kleinen, wie der typische sensory overload auf einer Veranstaltung oder im Großen, wie ungefähr das ganze Jahr 2015 - setze ich mich eine halbe Stunde hin und entkoppele mich von allem. Ich atme regelmäßig und tief, entspanne den Körper und stelle mir vor, alles um mich herum entfernt sich von mir. Alles wird leiser und kleiner und ist nur noch am Horizont sichtbar. Ich habe nichts mehr damit zu tun. Dann stelle ich mir vor, die ganze Erde, auf der all diese Dinge ohnehin schon weit weg von mir sind, entfernt sich von mir (oder ich mich von ihr), bis auch die nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne ist.
Dann habe ich nur noch mich und kann mich spüren. Es geht überhaupt nicht darum, Entscheidungen zu treffen, wichtige Überlegungen anzustellen oder sonst was zu erreichen. Es geht ausschließlich darum, dass ich merke, dass ich noch da bin. Dass es mich gibt. Wie ich und nur ich mich anfühle, ohne die ganzen Reflexionen von außen. Wenn ich mich lange genug (und das lange genug wirklich abzuwarten ist wichtig) wieder wahrgenommen habe, lasse ich mich wieder zur Erde absinken und ziehe den leeren Raum zwischen mir und meiner Umgebung wieder zurück. Dann öffne ich die Augen und gehe zurück in die Situation, aus der ich mich gerade zurückgezogen habe und etwas interessantes passiert: Ich bin konzentriert und voll anwesend, habe ein klares Bild davon, was passiert und kann vernünftig und ruhig darin agieren und reagieren.
Ich war - wie jedes Jahr - auf der re:publica und es war - wie jedes Jahr - einer der wichtigsten Termine des Jahres für mich. Ich denke mal, wer mich kennt weiß, dass ich nicht beruflich dort bin, mir keine Businesstalks ansehe und keine geschäftlichen Interessen mit dem Besuch der Veranstaltung verbinde. Dennoch, oder besser deswegen, ist diese Woche für mich wichtig. Die re:publica ist für mich ein Familientreffen. Ich würde jede Unannehmlickeit in kauf nehmen, um sie nicht zu verpassen. Es gibt keine andere Veranstaltung, auf der so viele Menschen sind, denen ich mich verbunden fühle und die ich innigst in mein Herz geschlossen habe, auch wenn viele von ihnen das gar nicht wissen, weil ich gar nicht die Gelegenheit habe, mit allen zu sprechen.
Dieses Jahr fühlte sich aber die Vorbereitung auf die re:publica anders an als sonst. Denn einer der Menschen, die ich Jahre lang bewundert habe, war Johannes Korten und er ist tot. Ich habe ihn auf vielen vorangegangenen Veranstaltungen gesehen, aber erst letztes Jahr persönlich kennengelernt. Dass er dieses Jahr nicht da sein würde, ging mir näher als ich dachte. So nahe, dass ich Angst hatte, wie es sein würde, auf einer re:publica zu sein und er ist kein Teil mehr von ihr. Schlimmer, er findet gar nicht statt.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn in meinem Blog hier fand er ja auch nicht statt. Ich hatte durchaus letztes Jahr mehrmals versucht, Worte zu finden, aber es ging nicht. Ich habe am Ende mangels Worte ein Lied aufgenommen und auf Facebook gepostet und selbst da wurde der Text, den ich dazu schrieb, immer kürzer. Erst am Ende des Jahres hatte ich ein paar Zeilen mehr schreiben können.
Nachdem ich meine Situation auf Facebook schilderte kam heraus, dass ich nicht der einzige bin, dem es so ging. So überlegten Wibke und ich, wie wir in der kurzen Zeit doch noch etwas tun können. Um es kurz zu machen: Ich habe direkt am Sonntag abend noch Tanja und die Orga angesprochen die uns sofort alle Unterstützung zukommen ließen die wir brauchten (besonderen Dank an Simone, die trotz Krankheit am Montag ständig für uns da war), Wibke und ich haben Plakattafeln machen lassen und es hing am Ende eine Erinnerungswand für die Geister der re:publica.
Das war zwar aus dem Ärmel geschüttelt und ein erster Schritt, aber besser als gar nichts. Was sich aber bei den ganzen Gesprächen darüber herauskristallisierte war ein wichtiger Punkt: Wir haben noch überhaupt keine Erinnerungskultur. Wir treffen uns seit über zehn Jahren, sind stolz auf den Zusammenhalt und die Familiarität, die wir bewahrt haben und die trotz aller kritikwürdigen Dinge, Fehler, Schwierigkeiten, Dissonanzen, die auf der re:publica nicht ausbleiben, in ihrer DNA verankert ist. Wir erkannten, dass die re:publica nicht nur Themen aufgreift sondern auch eine Kultur geschaffen hat und diese weiterträgt. Aber eine Kultur muss gelebt werden, gepflegt werden und sie muss Platz beanspruchen. Platz für die Dinge, die alle betreffen, ob Businessfuzzi, Nerd, AktivistIn, HackerIn, BloggerIn und einfach egal wen. Und der Tod gehört zu den existenziellen Themen, ohne die es keine Kultur geben kann. Daher brauchen wir Erinnerung. Ich habe dieses Jahr mit so vielen Menschen über ganz persönliche, intime Dinge gesprochen wie lange nicht mehr. Der Bedarf dafür ist immens.
Ich werde daher nächstes Jahr einen Vorschlag machen, der kein Schnellschuss mehr ist: Ich stelle mir vor, dass wir weiterhin auf der re:publica über Technik und über Politik reden, uns über zu viel Business und zu wenig Aktivismus streiten, dass es Blödsinn, Trollerei und Party gibt und dass all das sogar besser wird, wenn wir unsere Geister nicht vergessen, die inzwischen unter uns wandeln. Die DNA der re:publica hat uns, die Menschen, die die Welt irgendwie besser machen wollen, im Mittelpunkt. Wenn wir in unserer Kultur Trauer, Erinnerung und Freude darüber, so wunderbare Menschen gekannt zu haben, dass sie uns fehlen wenn sie fort sind, zulassen, wird diese Kultur auch alle anderen Bereiche aktivieren und uns die Sicherheit geben, dass die re:publica nicht vergessen wird, wo sie herkommt.