Warum wir Überwachung nicht verhindern werden, wenn wir nicht etwas anderes grundlegend ändern...
Bild: Emily Helen
1.
Auf der re-publica unterhielt ich mich mit jemandem, der für eine Studie Hartz-4 Empfänger interviewte.
Er erzählte, dass jede von ihnen einen guten Grund hatte, auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein: Der eine ist zu alt für seinen Job, die andere ist zu lange krank gewesen, der nächste kann die Gegend nicht verlassen in der es einfach keine Jobs gibt, die nächste hat einen Beruf, der heute nicht mehr benötigt wird. Und so weiter. Er sagte, es kam eigentlich heraus, was zu erwarten war: Auch Hartz-4 Empfänger sind ein ganz normaler Querschnitt der Bevölkerung was Schulbildung, Ausbildung oder Studium, Familienverhältnisse oder sonstige biographische Eigenschaften angeht.
Soweit, so erwartbar.
Was auch erwartbar war, war das Gefühl dieser Menschen, zu Unrecht stigmatisiert zu sein und von Ämtern und Behörden überwacht und gegängelt zu werden.
Was dann aber überraschte war, dass sie zwar alle ihre eigene Situation realistisch beschrieben haben, aber bei der Beurteilung der anderen Interviewkandidatinnen komplett daneben zielten: Ihr Wunsch, nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden galt nämlich absolut nicht für die anderen da draußen im Wartezimmer: Die seien eben genau die Schmarotzer und Faulenzer, wegen denen das Sozialsystem so versagt und die nehmen ihnen, die berechtigt auf Hilfe angewiesen sind, das Geld, die Chancen und den guten Ruf weg.
Jeder Einzelne von ihnen war dieser Meinung.
2.
Cory Doctorow erklärte - ebenfalls auf der re-publica - warum wir den Kampf gegen Überwachung verlieren werden. Ein wichtiger Punkt (von mehreren): Menschen sind misstrauisch. Sie wollen zwar selbst nicht überwacht werden, aber sie sagen im gleichen Atemzug, dass es leider nötig ist, alle anderen zu überwachen.
Wir sind nicht gerade dabei, durch Überwachung die Gesellschaft mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung in eine Gesellschaft mit dem Prinzip des Generalverdachts zu verwandeln. Die Überwachung ist lediglich ein Symptom und das Ergebnis dessen, dass diese Gesellschaft sich schon längst geändert hat.
Die Idee, dass die Überwachung aller Menschen etwas notwendiges sei, hat traurigerweise eine Mehrheit und Solidarität und Vertrauen gilt nicht mehr als Wert sondern als romantische und naive Schwäche!
3.
Eine Kusine von mir postete letztens einen NPD-Spruch in Facebook. Demnach würden für Flüchtlinge Millionen ausgegeben werden, die bei Schulen und Rentnern eingespart würden. Natürlich ist das völliger Unsinn und populistischer Quatsch. Wir könnten problemlos sowohl wesentlich mehr Flüchtlinge aufnehmen, als auch gleichzeitig Schulen sanieren und bessere Bildung ermöglichen und wir könnten Rentnern auch mehr Geld geben.
Aber warum sollte man das tun, wenn man doch anscheinend die, die zu kurz kommen, so wunderbar gegeneinander ausspielen kann? Wenn das sogar dazu führt, dass sie dann die wählen oder denen blindlings folgen, die von dieser Situation profitieren und den Teufel tun, daran auch nur irgendetwas zu ändern?
So lange Menschen glauben, dass sie zu kurz kommen weil Menschen, die ebenfalls zu kurz kommen Schuld daran sind, wird sich da wenig ändern und schlecht gelaunte Menschen neidisch auf andere schlecht gelaunte Menschen schimpfen.
4.
Eins der Argumente, das ich immer höre, wenn es um das Thema "Bedingungsloses Grundeinkommen" geht ist, dass dann ja niemand mehr arbeiten würde und dass es ungerecht sei, wenn andere - im Gegensatz zu einem selbst - nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiteten sondern "alles" geschenkt bekämen.
Natürlich lautet die Antwort auf die erste Gegenfrage "Wie, Du würdest dann nicht mehr arbeiten?" - "Nein, ich würde auf jeden Fall weiter arbeiten. Aber alle anderen nicht und das ist ja dann ungerecht." und es ist ihnen seltsamerweise auch nicht zu erklären, dass ja jeder, also auch sie, dieses Grundeinkommen beziehen würden, zusätzlich zu dem, was sie durch ihre Arbeit verdienen.
Was mir hier jedes mal auffällt ist diese sehr seltsame Sichtweise, nach der man anscheinend einen nicht tolerierbaren Nachteil davon hat, dass andere etwas bekommen, wenn sie nicht dieselbe Vorstellung davon haben, warum sie es "verdienen".
Lieber lehnen sie also sogar Ein BGE für sich selbst ab, als dass das zur Folge hat, dass andere dasselbe bekommen.
5.
Ich könnte noch mehr Beispiele aus verschiedenen weiteren Themenbereichen geben:
- Warum geht es wohl bei Schulreformen nicht weiter (was wirklich traurig ist)?
- Datenschützer wollen jetzt angeblich auch Menschen töten (Das dürfte die perfideste Idee sein, um Datenschutz zu diskreditieren und natürlich klappt es, wenn man die Kommentare liest, die diese schrecklichen "Datenschützer" gerne am nächsten Baum baumeln sehen würden).
- Oder schauen wir uns die einer Demokratie völlig unwürdige Art und Weise an, wie man heutzutage auf Streiks reagiert, sei es der Bahnstreik oder der Streik der ErzieherInnen: Ich bin entsetzt über den ungezügelten, offenen Hass aus komplett unreflektiertem, purem Egoismus, der noch dazu völlig verantwortungslos von Medien aufgestachelt und von Politikern legitimiert wird.
Auch die Anspruchshaltung dahinter ist bemerkenswert: Wenn der Zug nicht kommt oder das Kind nicht betreut wird sind Menschen sofort bereit, Streikverbote oder Arbeitszwang zu verlangen. Dass das im Zweifel auch für sie gelten könnte ist offenbar keinen Gedanken wert.
- Wir schicken Soldaten los, um Flüchtlingen ihre letzten Hoffnungen zu versenken statt ihnen zu helfen.
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Ich glaube inzwischen ist es nicht mehr schwer, das Muster zu erkennen. Oder? Ich erinnere mich jedenfalls an Leute, die sowas vorhergesagt haben, als Helmut Kohl in den Achtzigern begonnen hat, das Solidaritätsprinzip konsequent zu vernichten (und Schröder den Staffelstab übernommen hat und geradewegs weitergemacht hat).
Wenn wir nicht hier ansetzen sondern glauben, es reicht doch, sich dafür einsetzen, dass unser schönes, gemütliches Internet schön und gemütlich bleibt und der Rest der Menschen um uns herum geht uns nichts an, haben wir kein besseres Internet verdient als das, das wir am Ende bekommen.
4 Kommentare
Kommentar von: Michael Koch [Besucher]
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]
Ich glaube nicht, dass es für Intoleranz besondere Voraussetzungen gibt. Weder Alter noch Bildung noch Wohlstandslevel sind da ausschlaggebend. Ich sehe gerade viele junge Menschen dabei, die ganze alberne Geschlechterrollen-Kiste ordentlich durchzuschütteln und Diversität und Repräsentation einzufordern. Da sind es dann eher die Älteren, die sich davon angegriffen fühlen.
Kommentar von: Jean Pierre Hintze [Besucher]
“Wir” schicken keine Soldaten los, um Flüchtlinge zu versenken! Die deutsche Marine hat mittlerweile tausende Flüchtlinge auf dem Mittelmeer vor dem ertrinken gerettet. Wird besonders gerne von politisch-motivierten Aktivisten unterschlagen, denen solche Tatsachen nicht ins Weltbild passen.
Und selbstverständlich will ich, dass auch meine Kommunikation gerastert wird - sonst wäre Überwachung nicht effektiv. Nur eine verdachtsunabhängige Überwachung macht Sinn - organisierte Kriminelle und Terroristen arbeiten nämlich vorrangig mit unverdächtigen Verhaltens- und Sozialmustern.
Ansonsten ist der Text voller kluger Erkenntnisse - Menschen sind nämlich nicht so, wie es sich Ideologien wünschen. Deshalb sollten Ermittler und Nachrichtendienstler auch nicht links sein. Und auch nicht rechts.
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]
Tja, wie gesagt: Die Frage ist, wie wir miteinander leben wollen und Meinungen wie die von JP Hinze, der schön Argumente präsentiert, um Menschenwürde zu relativieren, sind eben mehrheitsfähig.
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Danke für die Recherche!
Der Mensch ist des Menschen grösster Feind -… und Freund! Und solange das so ist, sind Menschen auch Menschen. Wenn es eines Tages nicht mehr so sein sollte, dann sind wir nicht mehr Menschen, sondern Engel…
Übrigens, ist Euch schon mal aufgefallen, dass junge Menschen besonders engstirnig und intolerant sind (sein können)?