Letztens im Podcast haben Sven und ich ein bisschen orakelt, wer am Ende bei den Wahlen im Herbst welche Partei wählen wird. Meine These war (und ist) ja, dass es nach Abzug des üblichen Anteils von Wähler:innen antidemokratischer Parteien eigentlich nur drei Wähler:innentypen gibt: Die eine sind die jeweiligen Stammwähler:innen der Parteien, die immer schon und auch weiterhin dieselbe Partei wählen - von denen hat die CDU am meisten und startet daher immer mit einem Vorsprung von mindestens 15% vor den anderen.
Interessanter sind die anderen zwei:
Die, die die Merkelpolitik weiter haben wollen und deshalb CDU wählen.
Die, die progressive Politik haben wollen und deswegen Oppositionsparteien wählen, also Grün, Links, Rechts (FDP ist ja keine Partei, sondern ein Lobbyverein).
Was dabei auffällt und weshalb ich das im Podcast auch erzählt habe ist, dass keine dieser beiden Wähler:innengruppen einen Grund hat, die SPD zu wählen: Die SPD war ja in der Regierung Merkel. Das heißt, die Gruppe 1 "weiter so" wählt lieber direkt die CDU und Gruppe 2 "anders machen" wählt natürlich gar keine derzeitige Regierungspartei. Und dementsprechend unüberraschend waren die SPD-Zahlen so tief im Keller, wie nie zuvor.
Jetzt sehen die Umfragen aber inzwischen so aus, dass Olaf Scholz in Führung geht. Wo kommen denn plötzlich SPD-Wähler:innen her? Haben wir uns etwa geirrt?
Ich glaube nicht, aber es ist eben etwas passiert, was m.E. die Wähler:innen der ersten Gruppe angeht und auf das sie folgerichtig reagieren:
Es ist ja so, dass Laschets Aufgabe eigentlich einfach war "Sei der männliche Merkel". Das hat er nicht geschafft. Merkel gibt sich klar, ehrlich, ein bisschen stoisch und konzentriert, meistens vernünftig in ihrer Argumentation, zurückhaltend, freundlich und ohne Arroganz. Laschet hat in den letzten 4 Wochen nichts davon gezeigt, sondern das Gegenteil: er ändert ständig seine Aussagen, ist laut, emotional, widerspricht Fakten aus den Bauch und verteidigt unvernünftige Standpunkte "weil halt", wirkt fahrig und unkonzentriert und hat eine penetrante onkelige Überheblichkeit.
Und Scholz? Naja, der versucht seit einiger Zeit, genau dieses Vakuum zu füllen und gibt den Wähler:innen eben genau das, was Laschet hätte sein sollen: Die männliche Merkel. Dass er die eigentlich auch nicht wirklich ist, ist dabei nicht so wichtig, er muss ja nur erkennbar mehr Merkel sein als Laschet.
Und schon wechseln Wähler:innen der Gruppe 1 zur SPD. Denn die wollen ja alles wie bisher. Und Scholz spielt das gut aus mit einer Mischung aus Merkel-Mimikri auf persönlicher Ebene und dem Adenauerschen "Keine Experimente" auf der politischen. Er schafft auch viel besser als Laschet, nicht über Inhalte zu sprechen, sondern auf der Platitüdenebene zu bleiben - das gefällt Gruppe 1 sehr gut. Dass die Zahlen der Grünen (und Linken) im Groben stabil bleiben - die Stimmen also vor allem von den CDU-Wähler:innen kommt -, würde ich da als Bestätigung dieser These sehen.
Und gerade kam auch noch ein Artikel, der mir das ebenfalls zu bestätigen scheint, da eine psychologische Untersuchung der Wahrnehmung der Kandidat:innen folgendes ergibt:
(...) Die Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock werden demnach als perfektes Paar wie 'Adam und Eva' wahrgenommen, FDP-Chef Christian Lindner als trotziges "inneres Kind", SPD-Kandidat Olaf Scholz als Kontinuitätsgarant – und Armin Laschet als Witzfigur.
(Ach ja, über die trotzigen Kinder haben wir im Podcast auch gesprochen. Da muss ich demnächst vielleicht auch noch mal ein bisschen ausführlicher drauf eingehen...)
Ein Lesetipp zum Thema Gendersprache, der mal sehr genau erklärt, warum ich immer sage "der Zug ist da schon längst abgefahren: Es geht schon lange nicht mehr darum, ob gegendert wird oder nicht. Es wird gegendert, die Frage ist nur noch, wie":
Der Zug ist losgefahren, und da kann sich Friedrich Merz jetzt Sorgen machen, oder Herr Ploß kann das verbieten, und Sigmar Gabriel kann vorschlagen, dass nicht die Union, sondern der Rat für deutsche Rechtschreibung unsere Sprache weiterentwickeln soll... Nichts davon ist in irgendeiner Form außerhalb der Politik und des Wahlkampfs relevant, und nichts davon wird irgendeinen Einfluss darauf haben, wie es sprachlich weitergeht. Wir können nicht mehr zurück auf Los, der Fisch ist gegessen. Nichts davon berührt in irgendeiner Form die Grammatik des Deutschen abseits des Erwartbaren, und nichts davon lässt Linguist:innen nachts im Bett unruhig hin und her rollen.
Zu diesem schönen Artikel, der aus sprachwissenschaftlicher Sicht auf das Gendern schaut, hab ich auch noch eine Ergänzung. Ich möchte gerne auf den Vorwurf der "Sprachverhunzung" eingehen, der ja unweigerlich auftaucht, sobald irgendwo über Genderformen in der Sprache gesprochen wird.
Es gibt aus sprachwissenschaftlicher Sicht keine "Verhunzung" von Sprache. Es gibt nur Sprachevolution. Diese "Verhunzung" ist eine rein subjektive und emotionale Wahrnehmung. Wo die eigentliche Herkunft dieser Emotion auch klar verortet werden kann: Es handelt sich um ein Unwohlsein damit, dass etwas, womit wir aufgewachsen ist, sich so sehr ändert, dass es im Kern verschwindet - oder wir das Gefühl haben, es verschwindet und dass damit ein Teil unseres Lebens ausgelöscht wird. Deswegen übrigens ist auch wurscht, ob eine "Mehrheit" das ablehnt. Das ist ja ganz einfach der Demografie geschuldet - die Mehrheit ist halt älter und je älter man wird, desto weniger mag man Veränderung und reagiert, euphemistisch ausgedrückt, nostalgisch.
Das Anquengeln gegen Gendern entspringt nämlich demselben Veränderungs-Schmerz, den wir verspürten, als die Postleitzahlen fünfstellig wurden oder die D-Mark abgeschafft wurde. Letztendlich ist aber nichts objektiv schlechter daran, es machte und macht die jeweiligen Dinge nur anders und löste und löst damit jeweils ein faktisches Problem, das in der alten Form und Vorgehensweise nur mit zusätzlichen umständlichen Workarounds oder gar nicht zu lösen war.
Insoweit sage ich immer, ich verstehe die Emotion, denn es ist schon krass, wenn Veränderungen einen Teil der eigenen Prägung in der Vergangenheit zurücklassen, weil sie in Zukunft keine Rolle mehr spielt oder sehr viel anders gilt/gehandhabt wird.
Aber wir haben die vierstelligen Postleitzahlen, die D-Mark oder - noch ein Beispiel - die DDR auch nicht behalten, damit Menschen, die damit aufgewachsen sind, sich nicht unwohl fühlen.
Daher bekommen Leute, die ihrer Sprache nachtrauern, von mir durchaus ein wenig Verständnis. Aber auch nicht mehr.
Die Anpassung der Sprache an neue Anforderungen daran ist nämlich wichtiger und by the way auch unvermeidbar und Nostalgie (denn darum handelt es sich am Ende) ist kein objektiver und sachbezogener Grund, objektive und sachbezogene Schritte wie zB gesetzliche Verbote für Sprachformen zum "Schutz" eines veralteten Status Quo zu beschließen, wie sie drolligerweise sich für ach so liberal haltende FDP-Herrschaften derzeit gerne fordern.
Diese Art der populistischen Erhöhung von Nostalgie als Politik gibts aber schon immer und ich seh sowas als relativ normalen Ausdruck von Fortschrittsschmerzen mit denen wir ständig leben und deren Lautstärke mit unserer Demografie zusammenhängt: Es gibt halt mehr alte Menschen als junge in der Gesellschaft. Es ist also genauso müßig, die zu beklagen.
Am Schluss noch ein Funfact, das vielleicht ein wenig erklärt, worüber wir hier eigentlich sprechen und warum die Frage, ob und warum irgendwas sich nicht ändern darf, außerhalb der ganz persönlichen Erlebens kein relevantes Thema ist: Auch ich fand die Umstellung der Postleitzahlen von 4 auf 5 Stellen damals schrecklich. Denn die vierstelligen Postleitzahlen waren die natürliche Ordnung, weil es sie schon gab als ich geboren wurde. Das war 1968. Lustigerweise fand ich aber irgendwann heraus, dass es das vierstellige Postleitzahlen-System bei meiner Geburt gerade mal 6 Jahre gab, denn es wurde erst 1962 eingeführt. Die fünfstellige Postleitzahl - eingeführt 1990, also 28 Jahre nach der Einführung der vierstelligen Postleitzahl - ist jetzt im 31. Jahr und existiert somit schon jetzt länger, als es die 4-stellige gegeben hat.
Wundert ihr euch auch, warum immer noch auf diese "schwarze Null" gepocht wird, obwohl Austeritätspolitik schon längst als Rechenfehler entlarvt wurde? Da gehts ja darum, dass der Staat nicht noch "mehr Schulden" machen darf. Schulden sind schlimm und gefährlich, erzeugen Unsicherheit und Ängste und die Gefahren eines Defizits sind leicht vermittelbar. Allerdings vor allem denen, die Schulden kennen.
"Wir dürfen nicht über unsere Verhältnisse leben, sonst ist unser Wohlstand in Gefahr" verstehen viele Menschen als Analogie zu ihrer persönlichen Erfahrung: Das scheint dasselbe zu sein, was sie jedes Monatsende erleben, wenn es darum geht, dass genug für die Miete übrig ist.
Das Ding ist nur: Staatsschulden sind was völlig anderes als private Schulden. Ein Staatshaushalt funktioniert völlig anders als ein privater Haushalt. Die Analogie ist völlig falsch, aber leider naheliegend und m.E. auch gewollt, denn sie sorgt für die Zustimmung der Menschen, die am meisten unter den Auswirkungen der Politik leiden, die mit der "schwarzen Null" begründet wird. Diese Politik sorgt nämlich vor allem für immer neuen Einschränkungen in sozialen Bereichen von Nothilfe über Bildung zu Gesundheit und Rente.
Schauen wir aber doch mal an, wer diese Idee der "schwarze Null" eigentlich propagiert: Das sind Leute ohne Schulden (wobei sie manchmal schon Schulden machen, dann aber mit Absicht, um zu investieren, damit sie später Gewinne erwirtschaften). Leute, die eigentlich wissen, dass private Schulden und Staatsschulden nicht dasselbe sind. Die wissen dass der Staat seine Schulden sehr leicht durch neue/andere Steuern und Abgaben ausgleichen kann, wenn das doch mal nötig wäre. Und die bekommt er im Zweifel woher? Na, schon mal nicht von denen, die nichts haben.
Es geht bei der schwarzen Null also um einen echt perfiden Strohmann zur Projektion von Existenzängsten armer Menschen auf den Staat - der aber wie gesagt ein System ist, das gar nicht vergleichbar mit ihrer Situation ist -, dessen wichtigste Aufgabe es ist, zu vermeiden, dass der Staat für arme Menschen an die Gewinne und das Vermögen der Wohlhabenden geht, die sich keine Sorgen um Schulden machen müssen. Das manifestiert ein System zu Gunsten Wohlhabender auf Kosten derer, denen mit einer falschen Metapher ihrer eigenen Situation jeder Weg verbaut wird, jemals aus ihren Schulden zu kommen.
Das CSU-Video ist ein Lehrbeispiel für Contentstrategie gone wrong: Stilmittel, Optik, Tonalitat und Formate, die den einen unterstützen, authentisch zu sein, einfach zu kopieren macht nicht den anderen automatisch auch authentisch sondern kopiert nur die Stilmittel, Optik, Tonalitat und Formate. Authentizität ist keine Äußerlichkeit.
Es fehlt völlig der Kern, der Rezos Video erfolgreich machte: Sein Zerstörungsvideo war ein massives Bombardement (zeitraubend recherchierter und transparent dokumentierter) konkreter Inhalte, die er aus seiner emotionalen persönlichen Perspektive präsentierte. Nichts davon findet sich im CSU-Pendant: Es gibt keine echten Fakten, keine Links, keine persönliche Aussage des Protagonisten (der dadurch zu einem reinen Präsentator wird, was das Format schon im Ansatz ad absurdum führt).
Es ist nur eine reine Contentsimulation.
Was die CSU damit ungewollt bewiesen hat ist, dass sie tatsächlich keinen Draht zur Jugend hat, denn dieses Video scheint ja das Ergebnis der Überlegung "Wie können wir junge Menschen erreichen." zu sein und ich lese an zig Stellen wie alte Männer es dafür feiern und tatsächlich glauben, es sei eine adäquate Antwort auf Rezo.
Das macht ein bisschen stutzig, aber auch das ist erklärbar. Erinnern wir uns mal an die Reaktionen derselben Menschen auf Rezos Video: Nach der ersten Schockstarre haben die sich gegenseitig erzählt, dass Rezo ja nur eine Frontfigur für ein Werbeunternehmen sein, das wahlweise von Linken oder Grünen für die Produktion eines (anti-)PR-Videos bezahlt worden wäre. Und exakt das haben die jetzt ihrerseits gemacht.
Um im Contentmarketing zu bleiben: Sie haben mit einer falschen Grundannahme aus ihrer Innensicht am Ende für die falsche Zielgruppe produziert. Ihr Video hat letztlich gar nicht die Jugend im Visier sondern einen selbstgebauten Strohmann. Es soll den PR-Erfolg der imaginierten Partei, die in ihrer Welt Rezos Video bezahlt hat, ausgleichen. Deswegen ist da auch kein Inhalt drin. Es reicht ja, Format, Tonalität, Optik und Stilmittel zu kopieren, um einem Ding ein Gegending hinzustellen. In ihrer Welt ist der Score jetzt ausgeglichen und man kann sich wieder schlafen legen.
P.S.: Dswegen verbergen sie auch alle Kommentare: Es geht allein um den Anschein, eine für Ihre Augen gleichwertige PR-Antwort auf eine vermeintliche PR-Aktion geschaffen zu haben und alles, was dieses Bild stört und entfernt werden kann, wird halt entfernt.
Meine These zur neuen Urheberrechtsgesetzgebung und deren Artikel 11 und 13 ist ja, dass die gesamte Novelle vor allem ein Versuch ist, das Internet so umzugestalten, dass es zu einem, - sagen wir mal - konservativerem Verständnis davon, wie Medien funktionieren, passt. Wir hören ja grade sehr oft "die haben das Internet nicht verstanden". Das halte ich für eine Fehleinschätzung. Die Leute, die zb Axel Voss selbiges vorwerfen haben sein Konzept von Medien, Urhebern und Konsumenten nicht verstanden.
Hier hat jemand eine Stunde lang mit Axel Voss telefoniert und ich finde, dass das meine Vemutung bestätigt. Es geht in der Novelle um die Festlegung der Vorstellung, dass Nutzer nie Urheber sondern immer Konsumenten sind, Urheber ist man nur, wenn man einen Verlag hat und Plattformen sollen Verlegern keine Konkurrenz machen. Letzteres ist wichtig, da Plattformen mit der Verbreitung von Nutzerinhalten quasi wie Verleger agieren und Nutzer damit zu Urhebern machen.
Es geht um die Festlegung eines Status Quo. Einer Konstruktion wie Medien- und Contentdistribution funktioniert, die nun auch im Netz gelten soll, nämlich dass Nutzer nie Urheber sondern immer Konsumenten sind und man nur Urheber ist, wenn man einen Verlag hat. Plattformen sollen Verlegern also keine Konkurrenz machen. Letzteres ist wichtig, da Plattformen mit der Verbreitung von Nutzerinhalten quasi wie Verleger agieren und Nutzer damit de facto auch zu Urhebern machen.
Es geht darum, den Verlagen die Hoheit über die Verwertung von medialen Inhalten zu bewahren. Der Zweck der Ziffern 1 und 2 Artikel 13, der sagt, dass Plattformen quasi pauschal Lizenzen abschließen sollen ist nicht, dass Verlage irgendwie von Plattformen noch ein bisschen Geld einkassieren können (auch wenn dieser nette Nebeneffekt sicher nicht schmerzt), sondern dass Plattformen eine ganz klare und eindeutige Position in der Medien-Struktur zugeteilt wird und zwar die, die sich Verlage wünschen: Die der Hersteller von Musikkassetten in den Siebzigern, die eine Pauschalabgabe in den Verkaufspreis auferlegt bekamen, weil man damit copyrightgeschütztes Material vervielfältigen konnte.
Auch der wenig besprochene Artikel 12 belegt das: Da geht es darum, dass Verlage sogar an den Ausschüttungen beteiligt werden, die für Urheber gedacht sind. Etwas, was vor ein paar Jahren abgestellt wurde und nun über diese Bande wieder eingeführt wird. Dass Verlage und Verwerter sich regelmäßig selbst als "Urheber" bezeichnen, stützt deren Anspruchshaltung, Ausschüttungen zu erhalten, die den eigentlichen Kreativen vorbehalten sind.
Aber, und das haben Leute wie Voss übersehen und deswegen ist der Protest so groß: Das betrifft eben nicht nur die Plattformen, sondern auch ganz massiv die Nutzer*innen, die die Plattformen inzwischen schon lange nutzen, um so selbst Urheber*innen zu sein, ohne von Gatekeeper-Verlagen abhängig zu sein. Das ist, was "die nicht verstanden haben". Und auch die junge Generation, die für die Medienstruktur auf die Straße geht, hat das nicht verstanden weil für sie die "alte" Struktur fast ebenso gar nicht existiert, wie für die Verteidiger der alten Gatekeeping-Struktur die "neue".
Deswegen halte ich auch die Überraschung der Konservativen über die Mobilisierung der Nutzer*innen für echt. Natürlich müssen die glauben, dass das "Bots" sind oder dass die Plattformen ihre Nutzer*innen "steuern". In Wirklichkeit lassen sich die Politiker*innen aber von Verlagen steuern, denn die wissen sehr genau, dass diese neue Struktur existiert und sie wollen sie los werden.
Es gibt Verhalten, das nicht akzeptabel ist. Nehmen wir an, jemand kackt in der Öffentlichkeit ständig auf die Straße und erklärt, dass das sein gutes Recht sei und man ihn deswegen nicht gesellschaftlich ächten könne. Da würde niemand sagen, dass er damit recht hat und endlich tuts mal einer, dass man ihn deswegen echt nicht verurteilen könne oder gar, dass das zu kritisieren und ihn davon abzuhalten eine Provokation sei, die ihn erst recht dazu bringt, weiter auf die Straße zu kacken.
Das Problem ist, dass wenn man Leute, die permanent auf die Straße kacken - oder eben ständig ihren Rassismus zur Schau stellen - toleriert oder gar Verständnis dafür signalisiert, man ihre Taten und Äußerungen aus dem Bereich des gesellschaftlich geächteten Verhaltens in den des akzeptierten verschiebt und das darf nicht passieren.
So muss man auch die Sprachformel betrachten, dass man verdammt noch mal kein Verständnis für Rassisten zu haben hat: Ich kann Verständnis haben für eine schwierige persönliche Situation. Für Fehler in der Erziehung die ein Mensch ausbadet. Für Bildungsdefizite die ihm in unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft Zugang zu gesellschaftlicher Anerkennung verwehren. Für frustrierende Perspektivlosigkeit und Verzweiflung über seine nicht zu überwindende Existenzängste.
Aber auf die Straße kacken oder Rassismus bleibt davon unberührt und ich werde daher mit niemandem über irgendein anderes seiner Probleme reden, so lange er auf die Straße kackt oder sich rassistisch äußert, denn dass er damit aufhört ist die Voraussetzung dafür, dass ich in eine Interaktion mit ihm eintreten kann.
Dass plötzlich "uns" hier eine Art Holschuld zugeschrieben wird, diesen Leute irgendwie mit einer zugewandten Akzeptanz zu begegnen - also Leuten, deren Verhalten eben jenseits der Akzeptanzschwelle steht genau dieses Verhalten durchgehen zu lassen und mich erst mal um seine anderen Probleme zu kümmern - ist ein (ziemlich unsubtiler) rethorischer Taschenspielertrick, den jede*r kennt, die/der Menschen mit Suchtproblemen in der Familie hat. Alkoholikern kann man auch nicht helfen, indem man erst mal alle ihre anderen Probleme löst. Das ist kontraproduktiv, denn das signalisiert ihnen lediglich, dass sie weiter machen können wie bisher.
Was wir aber bei Rassisten und Neonazis tun ist das Gegenteil dessen, was ihnen helfen würde, wieder ein gutes und eigenständiges Leben führen zu können, denn wir laden sie sogar regelmäßig in Fernsehstudios ein und bringen ihnen bei, dass sie mit ihrem Verhalten in dem Bereich angekommen ist, in dem sich Briefmarken sammeln oder keine Fleischprodukte essen befindet: Manche machen das und wems Spaß macht, meine Güte. Aber erzähl doch noch ein bisschen von Deiner Wut. Klopapier?
Allein schon, dass sie nun auch in der Talkshow vor Millionen Zuschauern auf den Boden kacken oder ihre rassistischen Thesen erklären können ist der Sieg. Keine noch so gut geführte Diskussion wird das ändern. Der Rassist hat gewonnen, wenn man ihm zuhört. Dass man ihm vielleicht auch widerspricht, spielt für ihn keine Rolle. Er ist da angekommen wo er hin wollte: In die Mitte der Gesellschaft, ohne seinen Rassismus ablegen (oder zumindest verschämt verstecken) zu müssen.
Und deswegen ärgere ich mich darüber, dass man einem Sarrazin zuhört, dass der Spiegel morgen hunderttausende kostenlose AfD-Wahlplakate in den Zeitschriftenläden auslegt und dass ein Innenminister, ein Ministerpräsident und ein Verfassungsschutzchef rechtsradikalen Mobs mit semantischen Haarspaltereien zeigt dass sie einfach weiter machen können was sie wollen.
Wenn man mal vergleicht, wie es vor 10 Jahren auf der Straße aussah: Da konnte man noch gemütlich spazieren gehen. Heute tritt man alle paar Meter in den nächsten Kackhaufen. Das ist, was man davon hat, wenn man Leuten, die auf die Straße kacken nicht sagt: Hör auf damit oder verpiss dich!
Ich hab auf Twitter und Facebook einiges zur m.E. missglückten Implementierung der seit einigen Tagen "scharf" geschaltenen DSGVO geschrieben. Weil das dort in einer Weile aus den Timelines verschwindet, dokumentiere ich die Texte, die mir wichtig sind hier. Das bedeutet, dass das jetzt kein zusammenhängender Artikel wird, sondern mehrere Happen, die sich auf ein paar bestimmte Aspekte konzentrieren. Grundsätzlich bin ich kein Gegner von Datenschutz und nicht mal gegen die DSGVO und das BDSG. Meine Kritik richtet sich gegen die schlampige Implementierung, die ohne Not zu einer massiv unklaren Rechtslage für Einzelpersonen, Vereine und Initiativen führt und das Versäumnis, bestimmte Techniken und Methoden der Datensammlung für den Zweck der Erstellung von kommerziell genutzten Nutzerprofilen wirklich zu verbieten.
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Mir ist die #DSGVO inhaltlich tatsächlich ziemlich schnuppe. Aber ich sehe, was die Implementierung verursacht: jede Menge Blogs sind abgeschaltet, Vereine und Initiativen löschen ihre Seiten und werden damit unsichtbar. Der Schaden ist da. Wo ist der Nutzen? Dabei ist es mir völlig egal, ob ein kleiner Blogger ein paar persönliche Daten von mir speichert. Was soll der damit machen? Datenschutz finde ich trotzdem wichtig: aber da reden wir über die Daten, die der Staat über mich sammelt. Der tritt mir nämlich im Zweifel die Tür ein. Und genau an dieser Stelle passiert gar nichts. Im Gegenteil. Behörden nehmen sich immer mehr Rechte, Daten von mir und über mich zu erheben und zu speichern.
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Der Irrtum mit der #dsgvo ist ja, dass es darin darum gehen würde, Datenmissbrauch zu verhindern. Hätte man das tun wollen, hätte man ja nur Nutzungsarten, die man als missbräuchlich ansieht, verbieten müssen. So kann man das alles auch weiterhin, wenn man 5000 Worte Datenschutzerklärung im Keller aufhängt. Mehr noch: Dadurch dass man sich das vom Nutzer absegnen lässt, hat der hinterher sogar noch weniger Möglichkeiten, seine Datensouveränität wiederzuerlangen und natürlich werden die Betreiber sich wegen der Zustimmungspflicht direkt mal mehr Rechte beim Nutzer einholen als sie vorher hatten - schlicht aus dem Gedanken "Wenn ich eh fragen muss, kann ich ja auch gleich x und y dazu nehmen".
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Die Juristen, die grade so milde lächelnd in Kolumnen und Interviews den Kopf über Menschen schütteln, die aus Angst vor der DSVGO Salz über die Schulter werfen (sprich: aktionistischen Quatsch machen) verstehen nicht, dass das Problem nicht die DSVGO ist sondern Juristen.
Menschen sind schon immer so. Was sie nicht verstehen, wird von uns in magische Handlungen übersetzt. Man ahmt halt das nach, was die "Weisen" tun: So entstehen "juristisch" klingende Distanzierungszauberformeln von Link-URLs, rituelle Gruppenadmin-Posts um sich ein wertloses OK der Gruppenmitglieder einzuholen und das erklärt natürlich auch diese AGB-Widerspruch-Votivbildchen, die einfach nicht totzukriegen sind (Es erklärt auch Pseudonachrichten und btw auch einen US-Präsidenten der seinen Job spielt wie eine TV-Show weil er in Wirklichkeit gar nicht weiß was er zu tun hat, aber ich will meinen eigenen Post nicht derailen).
Die Frage ist: Wer ist denn Schuld daran, dass wenn sich Menschen
1. an eine Verordnung halten sollen die sie schon juristisch gar nicht verstehen und das
2. in einer technischen Umgebung, die sie nicht in der Tiefe beherrschen um abzuschätzen, ob sie etwas falsch machen und dann
3. die "Spezialisten" - also die Techies und die Juristen - ihnen mit ihrer typischen Arroganz erklären, dass sie halt dann nichts in dieser Umgebung zu suchen haben und selbst Schuld sind wenn sie kein Jura- und Informatikstudium absolviert haben bevor sie was ins Internet schreiben,
sie dann aus lauter Verzweiflung halt Magie betreiben in der Hoffnung dass das mit dem Salz schon irgendwas bewirkt, wenn mans über die Schulter wirft, weil "Schaden kanns ja auch nicht"?
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Ich mag Prantl und bin sehr viel häufiger seiner Meinung als nicht. Ich kann aber selbst dann meistens nachvollziehen, warum er etwas schreibt, wo ich anderer Meinung bin. Auch hier verstehe ich sein gute Absicht, dem Narrativ über aluhuttragende Datenschützer, die mit hysterischer Regulierungswut das Internet kaputt machen ein anderes entgegenzusetzen.
Aber er schummelt dabei, denn die neue Verordnung ist leider so schlampig implementiert worden, dass sie - zumindest im Moment - das Gegenteil von dem bewirkt was sie tun sollte: Es sind halt leider nicht die Dickfische wie Facebook und Google, die jetzt an die Leine genommen werden. Dazu hätte man Privatsphäre verletzende Techniken verbieten müssen, was nicht passiert ist. Man hat lediglich organisatorischen Aufwand verursacht. Den und die Anwälte, die da durchblicken, können sich Facebook und Google leisten, aber leider nicht die Feuerwehr Pusemuckel und Frau Müllers Strickblog. Und die sind es, die jetzt dicht machen, aus größtenteils zwar unbegründeter Angst da sie eigentlich gar nicht betroffen sind, aber wenn ein Gesetz von Datenschützern mit großem Jubel damit beworben wird, dass jetzt aber ratzfatz 20 Millionen Schadenersatz fällig sind, wenn man vergisst anzugeben, dass man ein Antispam-Plugin in seinem Wordpress hat, ist der Laie lieber raus und was bleibt dann übrig? Nur noch genau die Plattformen, Dienste, Medienseiten und Shops, die sich die Tracking und Profiling-Erlaubnis beim Nutzer abholen und dann ist es egal ob es ein oder 50 Scripte sind, die nachgeladen werden.
Das zweite Problem, das ich mit dem Text habe ist, dass die DSGVO im Gegensatz zu dem was er schreibt keiner einzigen Behörde die Datensammlung und -nutzung erschwert. Im Gegenteil, die berufen sich auf andere Gesetze (zB das POG) und können mit Hinweis auf "berechtigtes Interesse" die DSGVO sogar für die Begründung hinzuziehen, kein Optout zuzulassen.
Ja, kein Mythos: Jede Menge Blogs, Vereine, Initiativen, Foren, Privatseiten schließen. Einen kleinen Eindruck, wie schlimm es wirklich ist bekommt man hier.
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Leute, die ihre Blogs abschalten so: "Ich mach dann halt jetzt alles auf Facebook". Klappt super, das mit dem Datenschutz.
Ich möchte über etwas schreiben, was mir bei der momentanen Reprise der Cambridge Analytica Geschichte auffällt. Denn, schon wieder oder immer noch ist der seltsame Glaube an das eine magische Wort, das im richtigen Moment ausgesprochen den Helden rettet (oder den Schurken zum Superschurken macht) und den entscheidenden Vorteil bringt, eine der Kernelemente der Story um eine Firma, die mit massiven Beweisen und Verdachtsmomenten konfrontiert ist, dass sie mit Datendiebstahl, Betrug, Erpressung und agressivsten Manipulationsmethoden weit außerhalb des auch nur ansatzweise moralisch Vertretbaren agierte.
Das Bild, das sich gerade abzeichnet ist: Cambridge Analytica behauptet, sie würde durch extrem schlaue Datenanalysen mikroskopisch exakte, auf einen psychologischen Angriffspunkt der EmpfängerInnen abgestimmte Werbeposts schalten und sie damit praktisch hirnwaschen und zum gewünschten Wahlverhalten zwingen. In Wirklichkeit arbeitet sie aber als skrupellose grey und black hat Lobbyagentur, holzen sich mit Betrug, Bestechung und Erpressung durch die Politik- und Medienlandschaft, um den Anschein zu stützen, ihre teure und einzigartige Methode sei so erfolgreich wie sie versprechen. Eigentlich bestätigen die Enthüllungen das ganz prima und passt dazu - wenn man im vorletzten Jahr etwas aufgepasst hat - wie krasse, unverhohlene Desinformation den Wahlkampf in den USA bestimmte. Und dazu, dass eben nicht Subtiliät den Erfolg populistischer Kampagnen ausmacht sondern das Gegenteil davon. Wie das eben letztes Jahr dazu schon erarbeitet wurde, nachdem die ersten hyperventilierenden Sensationsartikel durch waren.
Selbstverständlich wurde auch da schon erklärt, dass wir nichtsdestotrotz einige reale massive Probleme haben, deren Aufklärung und Aufarbeitung dringend notwendig sind: Probleme mit Plattformen wie Facebook, mit der Art, wie sie mit Daten arbeiten, mit den Wegen der Einflussnahme und Manipulation, mit dem digitalen Kontrollverlust und vielem anderen. Aber man erklärt mir schon wieder, wenn ich sage, dass Cambridge Analytica Hustenbonbons gegen Krebs verkaufen, dass es doch sein könnte, dass das ja durchaus auch ein magisches Hustenbonbon sein könnte, das vielleicht genau diesen einen wichtigen Ausschlag gegeben haben könnte, der Trump die Wahl gewinnen ließ.
Ein Problem, das meiner Ansicht nach immer wieder verhindert, dass sich um diese Probleme nachhaltig gekümmert werden kann - und das sich gerade wieder exemplarisch zeigt - ist der Verlust von Kontext, bzw das Weglassen davon, wenn über komplexe Sachverhalte berichtet oder diskutiert wird. Das kommt zB auch daher, dass der Onlinejournalismus Informationen schnell, prägnant und verdaulich aufbereiten muss (und dadurch der Weg vom Lesen zum klicken und teilen möglichst nur Sekunden dauert), aber dass es leider Themen gibt, die gar nicht derart kurz und prägnant auf eine griffige Überschrift eingedampft werden können, dass die dieser Anforderung genügen, ohne dass sie durch ihre Emotionalisierung, ihre Vereinfachung, ihre Zuspitzung und durch das Weglassen von Kontexten am Ende plötzlich "falsch" sind. Jede Meldung ist eine Einzelnachricht, ein neuer Aspekt eines alten Themas wird nicht in Beziehung gebracht sondern immer wieder als neue Nachricht verkauft, bis hin zu Absurditäten wie Trumps Tweets, über die sich seit über 12 Monaten quasi täglich einzeln und immer wieder empört wird, als ob er just heute völlig überraschend was völlig dummes geschrieben hat. Das wirkt auf Dauer wie mediales Blitzdingsen am Murmeltiertag und sorgt dafür, dass immer gleiche Stories immer wieder von vorne beginnen.
Ein anderer Grund ist die Art und Weise, wie wir selbst ganz persönlich in Sozialen Medien bei Diskussionen sofort nur noch auf Überschriften oder einen (Halb)satz eines Kommentators antworten und als vollständige These betrachten, weil eine differenziertere Betrachtung zb für einen flüchtigen Facebookkommentar viel zu aufwändig ist. Dass wir dadurch immer nur das zuletzt gesagte beachten ist aber langfristig ein Problem. Ich merke das ja selbst (und letztes Jahr war das ganz genauso), wenn ich schon wieder versuche, zu erklären, dass Cambridge Analyticas Behauptung, mit Daten Verhalten zu verändern zuallererst mal ein Scamsystem ist und gerade die aktuellen Enthüllungen das sogar bestätigen. Das bedeutet aber eben nicht dass alles, was diese Firma tut, harmlos ist, dass sie nicht gefährliche, höchstwahrscheinlich jede Menge illegale Praktiken anwendet um die Erfolge zu erreichen, die sie brauchen, um ihren Scam "echt" aussehen zu lassen. Oder dass Facebook aus dem Schneider sei und deren Datensammeleien und Umgang damit schon ok gehen. Das ist aber das, was mir als meine Behauptung oft unterstellt wird, jetzt und auch schon letztes Jahr.
Die Vereinfachung der Welt in reine entweder/oder, schwarz/weiß, links/rechts, gut/böse Gegensätze zum einen plus dieser Kontextlosigkeit, in der Dinge, die aufeinander Aufbauen, miteinander zusammenhängen oder sich über einen längeren Zeitraum verändert und entwickelt haben ignoriert werden ist eine enorm frustrierende Situation. Ich hab da jetzt auch keine These oder einen Vorschlag oder ein magisches Hustenbonbon, das das schnell lösen würde, aber genau darum gehts halt auch. Das magische Hustenbonbon gibt es nicht. Wir müssen hier den langen Weg gehen und all die Kontexte betrachten, die Veränderungen und Entwicklungen nun mal antreiben...
Es gibt viele Aspekte, die auf den momentanen Erfolg von Populisten und Rechtsextremen einzahlen. Ich will auf einen eingehen, den ich für besonders relevant halte. Was weder heißt, dass das der wichtigste oder der einzige ist, noch dass ich mir über andere keine Gedanken mache. Das vorab als Disclaimer, damit niemand kommentieren muss, dass ich ja das ihnen wichtige, "eigentliche" Thema ignorieren würde (was wahrscheinlich dennoch passiert, aber egal).
Warum wir Fremde fürchten
Es gibt wahrscheinlich, seit der Mensch eine gewisse Selbstwahrnehmung und Intelligenz entwickelt hat, eine wichtige Instanz im Bewusstsein, die ihm hilft, mit der Realität klarzukommen und sein Dasein zu ordnen. Das ist die Wahrnehmung von Veränderung und die Angst vor dem Fremden. Wahrzunehmen, wenn sich etwas in der direkten Umwelt eines Menschen verändert oder wenn sie andere Menschen bemerken, die sie in ihrer gewohnten Umgebung noch nie gesehen haben, ist ein wichtiger Instinkt, denn darauf zu reagieren kann lebenswichtig sein. Daher reagieren wir auch heute mit Stress auf Neues und Fremdes. Stress erhöht die Leistungsfähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit und setzt den Fokus auf alles, was uns hilft, eventuell notwendige Abwehr- oder Fluchtmaßnahmen einzuleiten und erfolgreich eine Krisensituation zu bewältigen, falls sich diese Veränderung oder die fremde Person als Bedrohung herausstellt.
Leider ist eine der negativen Folgen dieses Instinktes der Verlust der Gesamtübersicht, denn er fokussiert uns auf den Moment und blendet alles aus, was gerade nicht wichtig scheint, um eine akute mögliche Bedrohungslage in einem größeren Maßstab oder mit einem rationalen Abstand zu bewerten. Bei Gefahr ist es wichtig, möglichst schnell und direkt zu reagieren und wenn es um Sekunden geht, ist der rationale Teil unseres Hirns dem emotionalen weit unterlegen: Der Sinn von Affekt ist es, schneller zu reagieren als man denken kann und um eine plötzliche Gefahrensituation durch Angriff oder Flucht zu beenden kann das schnelle Handeln aus dem Bauch heraus statt das überlegte Handeln aus dem Kopf heraus entscheidend sein. Wenn wir diesen wichtigen Instinkt nicht hätten, würden wir wahrscheinlich jeden Tag von einem Bus überfahren werden.
Das Fremde in der Dauerschleife
Bleiben wir mal beim Bus: Ich sitze im zweiten Stock und auf der Straße unter meinem Fenster fährt alle 10 Minuten ein KVB-Bus vorbei. Wenn das Fenster offen ist, hört man den auch, und zwar sehr laut. Wenn ich Besuch habe, fragt der mich nach einer Weile, ob mich das nicht stört und ich sage "Wie? Bus? Ich hör das gar nicht". Das liegt nicht daran, dass ich schlechte Ohren habe, sondern daran, dass ich weiß, was da vorbeifährt. Ich habe offenbar gelernt, dass er keine Gefahr ist, da er mich nicht im Wohnzimmer einer Wohnung im zweiten Stock überfahren wird. Mein Hirn blendet ihn aus. So sehr, dass ich nicht mal mehr das laute Geräusch wahrnehme, das er ja unverändert macht. Mein Besuch ist aber in einer fremden Umgebung und sein Hirn meldet ihm daher jedes Geräusch mit der Frage "was ist das? Muss ich darauf reagieren? Ist das gefährlich?"
Wofür dieses Beispiel steht ist: Wir leben in einer Zeit, in der sich die Menge der Geräusche - und ich meine nicht nur akustische - in unserer Umgebung viel schneller erhöht und potenziert hat, als wir uns daran als Gesellschaft gewöhnen konnten. Klar, einzelnen Menschen gelingt das problemlos, einigen ganz gut (zu denen zähle ich mich), einige bemühen sich redlich und erkennen und benennen ihre Überforderung, dann kommen noch ein paar mehr Abstufungen und dann gibt es irgendwann die, die nicht mehr verstehen, was da eigentlich passiert. Das sind die, die im Dauerstress landen und von ihm getrieben in einem ständigen Zustand der Panik, der Angst und der Bedrohung leben.
Stress ist wichtig und hilfreich in ganz konkreten kritischen Situationen, die eine ganz konkrete direkte Reaktion benötigen. Wenn ich aber den Eindruck vermittelt bekomme, ständig von neuen Gefahren umgeben zu sein und die Informationskanäle über die ich darüber informiert werde nutzen dazu noch eine Form, die so tut als wären diese Gefahren alle so dringlich und konkret wie ein Bus, der gerade auf mich zu kommt, und wenn, sobald ich mich dann diesen Gefahren zuwende um sie zu bekämpfen oder aus ihnen zu fliehen, irgendwie gar keine Möglichkeit dazu besteht, dann hab ich irgendwann ein Problem. Nicht mit den Gefahren selbst, weil die natürlich gar nicht so konkret und direkt sind wie sie uns verkauft und vermittelt werden. Nein, dann gerate ich in einen Dauerstress und ein permanentes Gefühl der Panik, der Angst oder der Wut - je nachdem, wie ich da disponiert bin.
Und genau diese Panik, Angst und Wut erkenne ich bei den Menschen, die uns das Fernsehen zeigt, wenn sie sich darüber wundern, dass Menschen selbst dann, wenn Journalisten und Politiker auf sie zugehen um mit ihnen zu reden, diese nur noch anpöbeln, beschimpfen und vielleicht sogar tätlich gegen sie werden.
Opfer der Populisten
Menschen haben ja berechtigte Sorgen: Haben sie morgen noch Arbeit? Reicht die Rente? Wird alles teurer? Warum verändert sich alles so schnell, dass sie nicht mehr mitkommen? Bekommt irgendjemand was geschenkt, während sie sich für alles anstrengen müssen (ja, wichtige Frage für manche)? Und dann kommt jemand und bietet mir Erklärungen: Die Medien belügen Dich! Die Ausländer nehmen Dir Arbeitsplätze und Frauen weg! Die Politiker nehmen Dir Dein Geld und Deine Rente weg! Und das im Affekt-Abwehmodus befindliche Hirn sagt: Da ist endlich ein konkreter Feind! Auf ihn mit Gebrüll!
Natürlich ist die Wahrheit anders: Die Vergangenheit war nie stabiler und sicherer als die Gegenwart. Es sind aber Dinge unsicherer geworden die mal sicherer waren. Es sind dem gegenüber auch genauso Dinge sicherer geworden, die früher unsicherer waren. Es haben sich immer Dinge geändert, es gab immer Fremde. Es gab auch immer Gefahren. Aber wir bekommen inzwischen viel früher davon erzählt, bekommen sofort Livebilder geliefert, hören alle Spekulationen von jedem, der eine äußert und können uns selbst mit beteiligen und helfen, die Panik der Unsicherheit zu erhöhen. Darüber wie das funktioniert und wie wir damit umgehen können hab ich schon mal ausführlich geschrieben.
Die Wähler der AfD sind schon weit über der Grenze dessen, was mit ein bisschen Vernunft, Ruhe und Reflexion behebbar ist. Die Welt in der sie leben ist eine, in der ihre Kultur, ihr Leben, ihre Perspektiven von allen Seiten unter Dauerbeschuss stehen. Je abstrakter und weiter weg, desto mehr sogar: Man weiß ja, dass ausgerechnet dort, wo die wenigsten Ausländer leben, die Angst vor Ausländern am größten ist. Sie sind im Kampfmodus, mit allen Konsequenzen, auch der, dass jedes Entgegenkommen als Angriff empfunden wird. Wenn alle außer denen, die ihre Weltsicht teilen, Feinde sind, kann man mit denen ja nicht reden. Sie sind umzingelt von Fremden. Ihre Heimat verwandelt sich in die Fremde. Wenn sie sagen, sie fühlen sich "fremd im eigenen Land" ist das keine Metapher. Sie sagen die Wahrheit - aber eben die gefühlte, und die ist echter und tiefsitzender als jede objektive Wahrheit - und sobald man versucht, ihnen zu erklären, dass das ja nicht stimmt, hat man schon verloren. Denn es ist die Welt in der sie leben, die sie wahrnehmen und die sie spüren. Wahrer kann sie gar nicht mehr werden. Ich kann einem Ertrinkenden nicht sagen, dass da kein Wasser ist, wenn das Wasser, in dem er gerade ertrinkt, für ihn so echt ist wie es nur sein kann.
Und das ist das Dilemma: Die einzige Lösung, die es für diese Menschen gibt, ist, das Wasser abzulassen. Also Ausländer raus, Politiker an die Wand, Journalisten berichten nur noch was sie hören wollen. Das kann man ja nicht machen, weil die Welt so nicht funktioniert. Aber die Forderungen haben eine übersetzbare Bedeutung: Ich will keine fremden Menschen um mich herum, die alles anders machen als ich. Ich will keine Regierung, die immer nur Kompromisse von mir verlangt und mir die nicht erklärt, sondern einfach mit einem "Basta" als "alternativlos" durchsetzt. Und ich will nicht ständig immer mehr Dinge lesen und hören, die mich verusichern und ängstigen.
Wo sind die besseren Lösungsansätze?
Und da sind wahrscheinlich die Ansatzpunkte, wenn man einen Teil der Gesellschaft in einer leider auch noch sehr ansteckenden Dauerpanik verliert. Einen Teil, der nach Auswegen aus dem Stress sucht, den all das Fremde um ihn herum erzeugt und deren Drang nach einem Ventil und einer schnellen Linderung ihrer Ängste zusätzlich von Leuten ausgenutzt wird, die ihm alle anderen Teile der Gesellschaft als Feindbilder für ihre Aggressionen anbieten sie dadurch gegen jeden Versuch des Entgegenkommens immunisieren.
Das schafft man nicht mit sachlichen Informationen. Die müssen natürlich da sein. Aber zunächst muss ja überhaupt wieder die Bereitschaft das sein, sich die anzusehen. Die herkömmlichen Formen der Kommunikation sind aber wirklungslos - die Menschen wissen, wie Politiker heutzutage reden. Sie wissen, wie Journalisten heutzutage reden. Sie wissen, wie Werbung funktioniert. Sie erkennen Phrasen. Sie wissen genau, dass man ihnen nicht geben will, was sie verlangen. Sie wissen nur nicht, dass der Schlüssel, um ihr Problem besser und nachhaltiger zu lösen als ihre Wut, ihr Hass, ihre Angst es ihnen vorgaukelt, nicht in der Welt um sie herum liegt, sondern in ihnen selbst. Dass es ihr Umgang mit Veränderung und mit dem Fremden ist, der "falsch" ist. Denn Veränderung und das Fremde ist nichts, was man bekämpfen kann. Es sind Prinzipien und die gehen nicht weg. Mit denen muss man lernen, umzugehen. Man muss sie kennenlernen, auf sie zugehen, sich für sie interessieren. Erst dann kann man die Gefahr einschätzen, die von ihnen ausgeht. Oder erkennt eben, dass es da gar keine konkrete Gefahr gibt. Dass sie der größte Teil der Veränderungen auf der Welt gar nicht betrifft und wenn sie wollen, können sie die ignorieren wie den Bus, der vor dem Haus vorbeifährt.
Das bekommt man nur mit neuen Formen hin. Neue Formen der Bildung, neue Formen der Erzählung. Mit ehrlicherer Kommunikation. Und dann auch mit klaren Ansagen und Grenzen des Tolerierbaren. Das ist, worüber ich gerne reden will und wo ich gerne helfen will, denn mit den neuen Erzählformen kenne ich mich aus: Bloggen war so eine. Social Media transportiert einige. Und vor allem LARP ist so eine - sie verbindet sogar Erzählung und Bildung, indem sie Erfahrungen ermöglicht, die auf emotionaler Ebene die Türen für ein viel breiteres Verständnis und tiefere Erkenntnisse öffnet, Vorurteile auflöst und Empathie erzeugt. Das ist eine Stelle, an der man konkret etwas tun kann und ich habe daher vor, mich da wesentlich mehr einzubringen.
führt in den letzten Tagen zu seltsamen Diskussionen. Ok, vor jeder Wahl beginnen spätestens zu dem Zeitpunkt, ab dem es dem ein oder anderen schwant, dass "seine" Partei womöglich mal richtig abkacken wird, die Emotionen hochzukochen und auf der hysterischen Suche nach doch noch einer Wählergruppe, die vielleicht dieses unausweichliche Ergebnis drehen könnte, überwältigt sie die Wut der Verzweiflung und sie können nicht anders, als sie laut (und dabei auch noch sehr dumm) zu beschimpfen.
Das dürfte normal sein, das beobachte ich seit ich wählen kann und anfangs tat ich das durchaus ebenso.
Aber in den letzten vier Tagen hat das eine absurde Dimension angenommen, und zwar vor allem bei sich politisch links einordnenden Menschen in meinem Bekanntenkreis: Der erklärte Feind, der für den kommenden Sieg der AfD, das Abwandern aller sich links einordnenden Parteien (ja, ich schreib das mit Absicht so) in die Opposition und die drohende Schwarz-Gelbe Mehrheit und natürlich dafür, dass alle Deutschen demnächst zu Nazis werden sind: Die Wähler der Partei DIE PARTEI.
Irre, oder? 0,2% der Wähler sollen Schuld sein, wenn ein von allen etablierten Parteien jahrelang gefütterter politischer Backlash sich in einer Wahl manifestiert. Eigentlich muss man darauf inhaltlich gar nicht eingehen, oder auf die falschen Rechenbeispiele, nach denen eine Stimme für eine Partei, die unter 5% bleiben wird, eine Stimme für die AfD sei. Ein Freund von mir verstieg sich tatsächlich in die Aussage, dass es schlimmer sei, DIE PARTEI zu wählen als gar nicht. All diesen Unsinn habe ich viel zu ausführlich auf Facebook usw diskutiert, wo das alles zum Glück durch die ihm zugestandenen Kurzlebigkeit nicht lange sichtbar ist.
Aber es gibt eine Argumentation, auf die ich doch etwas nachhaltiger eingehen will, nämlich die, die in der Bildzeitung für Linke, der taz aufgemacht wird: Die Wähler der PARTEI sind verantwortungslose, dumme, junge, nur an Spaß interessierte männliche Menschen ohne echte Probleme, der sich auch sonst generell für überhaupt nichts anderes einsetzen, als für die eigene Lustbefriedigung. Diese Leute würden die PARTEI just for the lulz wählen und seien damit gar verachtenswerter als AfD-Wähler. Der taz-autor versteigt sich am Ende sogar in einen Vergleich von Wählern der PARTEI mit Nazi-Mitläufern im dritten Reich.
Sidenote: Ich nannte das in den Diskussionen Wählerbeschimpfung und es gab tatsächlich genügend Mitdiskutanten, die meinten, das wäre doch nicht beleidigend, sondern alles ganz rational.
Die gesamte harsche Verurteilung des PARTEI-Wählers fußt jedenfalls auf einer Behauptung, nämlich der, wer dieser Wähler ist. Ich vermisse da aber die Fakten, die Beweise für all die Annahmen, die da eben mal so über ihn aufgestellt und einfach als gegeben hingestellt werden.
Was wäre denn, wenn es genau die anderen sind, die die Partei wählen? Also die prekär lebenden intelligenten Abgehängten? Immigranten, die in allen Parteien diese Leute ansehen und hören müssen, die sie als Menschen zweiter Klasse und Verhandlungsmasse behandeln? Die Alleinerziehenden, die Menschen die gerade in die Altersarmut rutschen, Hartz4-EmpfängerInnen, KünstlerInnen, Behinderte, junge Frauen die keine Lust mehr haben ständig zu hören, dass sich ihre Zukunftsperspektiven schon irgendwann verbessern obwohl sie sehen wie sie gerade immer schlechter werden? Also die, die unter dem Stillstand am meisten leiden? Die seit vielen Jahren von den "ernsthaften" Parteien ignoriert werden oder sich von ihnen arrogante Sprüche darüber anhören müssen, dass sie halt mal was "leisten" sollen?
Was wenn die PARTEI-Wähler die Menschen sind, für die die großen Parteien nie etwas getan haben, weil ihre Problem keine Presse machen und weil sie den Parteien zu klein und zu unbedeutend sind, um sich ernsthaft um ihre Sorgen zu kümmern?
Wäre das Urteil dann immer noch dasselbe?
Hier wurde erst mal das Urteil ausgesprochen und sich dann nur noch die Vorraussetzung dafür passend zurechtgelegt, statt erst mal zu schauen, wer denn die Wähler sind, über die da gesprochen wird. Aber das ist ja auch nicht neu - man spricht ja immer über die Marginalisierten, nie mit ihnen. Man müsste ja sonst eventuell das vorgefertigte Urteil überdenken, das einem die moralische Überlegenheit sichert und rechtfertigt, warum es trotz seiner "linken" Gesinnung irgendwo insgeheim ganz recht ist, dass es einem selbst besser geht als den anderen.
Abgesehen davon ist so zu tun als ob Partei-Wähler und AfD-Wähler dasselbe sei - oder gar schlimmer - schon irgendwie seltsam, wenn das dieselben Leute tun, die Trumps "there were bad people on both sides" als Verharmlosung von Rassisten verurteilen. Wenn irgendwas Verharmlosung von Rassisten ist, dann doch, ihre erklärten Gegner als schlimmer zu bezeichnen als die Rassisten selbst, oder?
0,2% der Wähler einer Partei, die im Übrigen die einzige ist, die sich klar und lautstark gegen alles positioniert, wofür die AfD steht, sollen für die Krise der linken Parteien verantwortlich sein? Und um dieses haardünne Brett überhaupt hinstellen zu können, muss man auch noch einen Strohmann aus Opas Ressentiment-Kiste gegen Millennials aufbauen, wer diese Wähler sind? Das ist schon arg verzweifeltes wegschauen von den eigenen, riesengroßen Fehlern.
Ich erwähne hier mal nur einen: Es gab in den letzten fünf Jahren eine klare linke Mehrheit im Bundestag.
Wer hat also hier über Jahre aus welchen lächerlichen, egoistischen Gründen nichts getan?
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Kleine Schlußanmerkung, um die (wahrscheinlich dennoch kommenden) Abwehrreflexe und Projektionen zu mildern: Ich selbst weiß noch nicht, welche Partei ich wähle. Ich mag Progressivität (zB in Bildung, Wissenschaft, sozialer Entwicklung), halte das Bedingungslose Grundeinkommen für dringend notwendig und möchte ein Land, in dem Diversität und Pluralismus als positive Eigenschaften und Chance erkannt wird und die Wirtschaft wieder in die Verantwortung für die Gesellschaft genommen wird statt umgekehrt. D.h. es gibt etwa dreieinhalb Parteien, in denen zumindest ein bisschen was davon auftaucht und zwischen denen ich mich am Ende entscheiden werde.