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Ich hatte vorgestern Geburtstag. Dazu ein paar wilde Gedanken, warum ich die Dinge mehrheitlich positiv und entspannt sehe.
Ich weiß zum Beispiel genau, wie sich eine tasächliche Bedrohung anfühlt. Ich habe einen jahrzehntelangen kalten Krieg überlebt. Echte Waffen, echte Drohungen, echte sinnfreie Atomkriegsübungen in der Schule. Echte Tote an einer deutschen Grenze. The Day After als reale Möglichkeit für den nächsten Tag. Ihr braucht mir also nichts von gefährlichen Islamisten erzählen, vor denen werde ich nie Angst haben.
Ihr könnt aufhören, mir die angeblich schlimmen Folgen eines Atomausstiegs vorzulügen, ich weiß, wie sich eine tatsächliche Ölkrise und vor allem wie sich Tschernobyl und Fukushima angefühlt haben.
Ich weiß, wie viel besser wir heute informiert sind. Ich kenne die Zeiten, in denen es drei Fernsehprogramme und mit viel Mühe fünf politisch unterschiedlich ausgerichtete Zeitungen gab.
Ich habe erlebt, dass Mobbing vor allem dort entsteht, wo es möglich ist, Transparenz zu verhindern: Egal ob in Schulen, in Firmen oder in irgendwelchen Szenen. Ich sehe, wie gut Transparenz denen tut, denen erzählt wird, sie wären Einzelfälle oder ihr Verhalten sei eigentlich Schuld an ihrer Situation. Im Internet wird man auch gemobbt, das stimmt. Aber das kann ich - im Gegensatz zu früher - jetzt öffentlich machen, so dass jeder vor allem die Mobber sehen kann und die Gemobbten herausfinden, dass sie bei weitem nicht alleine und schon gar nicht hilflos sind.
Ich weiß, dass man sehr gut ohne das Internet zurechtkommen kann. Ich sehe aber auch, wie viel besser die Welt in nur knapp 20 Jahren mit dem Internet geworden ist.
Ich weiß, dass viele Dinge, die einem in einem Moment sehr schlimm und schrecklich vorkommen, überwunden werden können. Und ich weiß, dass man oft einfach nur etwas Zeit und Geduld dazu braucht. Vielleicht versteht man das erst, wenn man älter wird und die ein oder andere Krise schon hinter sich brachte. Ich kann jüngeren Menschen nur dringend raten, die älteren zu fragen - "It's getting better" ist kein Trost und kein Versprechen, es ist eine Erfahrung.
Wir waren schon komplett Pleite und es hat vier Jahre gebraucht, um wieder auf die "Null" zu kommen.
Ich habe mit 24 Jahren und einem Kind keinen blassen Schimmer gehabt, womit ich mal mein Geld verdienen sollte. Lasst euch nicht erzählen, ihr müsstet das mit 15 wissen.
Ich weiß, dass kein Mensch vorhersagen kann, was in 5 Jahren passiert. Als ich 5 war, erschien das Buch "Weltmacht ITT", das in meinem Bücherregal steht (und das ich eigentlich Mario versprochen hatte, fällt mir grade ein), in dem eine heute völlig vergessene IT-Firma zum zukünftigen Weltherrscher herbeigeschrieben wird. Dieselben Bücher gab es ab Mitte der Achziger über IBM, der Neunziger über Microsoft und jetzt über Google und Facebook. Do your math, ob ich Angst vor denen habe.
Ich kenne ziemlich viele Formen und Ausprägungen von Wirtschaftskrisen, politischen Krisen und Kriege. Ich erinnere mich an schwarzweiße Nachrichtensendungen, in denen über den Vietnamkrieg berichtet wurde, an den Afghanistankrieg in dem Bin Laden noch der Gute war, an einen blutig niedergeschlagenen Volksaufstand in China, an unzählige Putsche und Gegenputsche in Südamerika und an Jugoslawien, wo inzwischen keiner mehr weiß wer da eigentlich die Bösen waren (nun, die Muslims warens definitiv nicht). Die Welt ist dennoch bisher nicht untergegangen und das wird sie auch weiterhin nicht tun.
Die Welt wird sich aber sicher weiterhin immer wieder verändern - sich dagegen zu wehren ist ziemlich sinnlos und ermüdend. Sie verändert sich auch beileibe nicht immer schneller undschon gar nicht zum Schlechten: Wir werden lediglich immer unbeweglicher und langsamer, weil unsere Erinnerungen uns schwerfälliger machen. Wer noch nicht viel erlebt hat, könnte eigentlich viel unbelasteter nach vorne marschieren.
Ich vermisse aber, dass eine Reise zu einem 20 Kilometer entfernten Ziel spannend ist. Ich vermisse die Großfamilie und das Gefühl, dass es selbstverständlich war, dass immer irgendwie gut dreißig Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins um mich gewesen sind, wenn ich die 6 Wochen Sommerferien bei meiner Oma verbracht habe.
Ich vermisse, dass ein Kinobesuch etwas Besonderes war. Ich vermisse die Freude über das neue Yps-Heft. Ich vermisse überhaupt, dass mehr Dinge neu und aufregend sind als bekannt oder vergleichbar.
Ich habe aber dafür eine immer größer werdende Anzahl schöner Erinnerungen an Zeiten, die großartig waren. Oder Spannend. Befriedigend. Lustig... Erinnerungen, in denen die anstrengenden Seiten immer unwichtiger werden und immer mehr verblassen und die guten Seiten immer mehr glänzen können.
Es war bis hierher ein wildes hin und her. Wenn ich etwas definitiv gelernt habe, das ich weitergeben kann, dann ist es: Habt keine Angst vor der Zukunft und macht euch weniger Pläne.
8 Kommentare
Kommentar von: Jan Straßenburg [Besucher]
Kommentar von: Tim Peters [Besucher]
So sieht das aus.
Nochmals herzlichen Glückwunsch Euch zwei!
Und @Jan: Sag mal (wie passend zum Thema ;)), haben wir nicht damals in der selben Straße gewohnt und waren “best buddies” im Kindergarten? Die Welt, ein Dorf.
Kommentar von: Kai [Besucher]
Die Ölkrise anno ‘73 war “awesome"! ich erinner mich noch, wie wir sind auf dem Stadtring Schlitten gefahren (ich war 6) sind. :)
Aber der Kalte Krieg war doch pille-palle. Abstrakte Szenarien. Das machte doch keinem Angst. Selbst als ich mit meinem kleinen Panzerchen Teil davon war, wirkte das alles immer zu surreal, um wirklich Bedenken hervorzurufen.
Auch Tschernobyl habe ich eher als hysterischen Ausbruch, denn als wirkliche Bedrohung in Erinnernung. Als entweder war ich ein unbekümmerter Sonnenschein oder einfach nur hart im Nehmen.
Weißt du wann Bedrohungsszenarien wirklich konkret wurden? Nach Ende des Kalten Kriegs. Genauer mit dem Golfkrieg. Ich war als Student ja immer noch Reservist. Und auf einmal stand durchaus die Möglichkeit im Raum, das man wieder eingezogen wird, um bspw. amerikanische Kasernen zu bewachen. Die Bedrohung lag für mich konkret darin, dass mein Studium unterbrochen würde. So etwas hat der Kalte Krieg nicht mal ansatzweise hinbekommen (klingt pathetischer als es gemeint ist).
Außerdem würde ich heutige Szenarien nicht so einfach vom Tisch wischen. Auf einmal erscheinen Kriege in Europa wieder möglich, eben weil sie nicht a priori zur nuklearen Auslöschung führen. Und damit meine ich nicht Jugoslawien, sondern Kriege zwischen EU-Mitgliedern.
Undenkbar? Wirklich?
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]
Ich will nicht darauf hinaus, dass es undenkbar ist. Ich will darauf hinaus, dass schon immer Dinge passiert sind, die Auswirkungen auf viele Menschen haben - auch schlimme Dinge - und doch sind die gelöst, überwunden, verarbeitet worden und die Welt ist dennoch immer ein bisschen besser geworden.
Kommentar von: Oliver Herold [Besucher]
Glückwunsch im Nachhinein :-)
Ich erkenne mich da übrigens wieder. Es stimmt, man wird in einigen Bereichen etwas gelassener, es dauert mitunter, aber es wird schon …
Und ein schöner Gedanke übrigens, ich hatte da immer weitaus schlechtere an meinen Geburtstagen.
Danke für den Post. Ich wünschte, die “Erwachsenen” (16 Jahre Altersunterschied, ich hoffe du nimmst mir den Ausdruck nicht übel ;) ) würden öfter so reden. Boldog születésnapot nachträglich aus Budapest!
Danke für diesen Post und nachträglich alles Gute!
Well, hat geholfen. Danke!
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WORD!! (überschreite selbst übermorgen die 40 und kann dem allen nur zustimmen. Genau so!! Danke für die Worte.)