Wenn Solidarität nicht mal von denen kommt, die es besser wissen müssten
Ich hatte eine ähnliche Beobachtung schon mal vor gut 10 Jahren bei einigen Piraten bzw in der Nerdkultur gemacht, wie jetzt bei einigen Menschen, die sich in ihrer Eigenwahrnehmung wahrscheinlich als Vertreter von "Alternativen Lebensweisen" betrachten: Ein signifikanter Anteil der Menschen aus Milieus, die es in der Gesellschaft schon mal eine längere Zeit sehr schwer hatten, akzeptiert zu werden und deren Situation und Status sich durch die positiven Entwicklungen der letzten Dekaden verbessert hat, verwandeln sich in diejenigen, die sie vorher mit Intoleranz und überheblichem Spott verletzt und diskriminiert haben, statt selbst solidarisch mit anderen zu sein.
Ich glaube daher, dass es für Menschen aus Gruppen, für die sich eine lange Zeit der gesellschaftlichen Kränkung auflöst, mehrere Reaktionen gibt, nämlich mindestens drei.
Die harmloseste ist, dass sie die Erleichterung nutzen, um endlich in Ruhe leben zu können.
Das habe ich oft erlebt, als ich Menschen vor einigen Jahren, als ein bestimmter Webdienstleister kleine Unternehmen in Knebelverträgen festhielt, half und wenns geklappt hat, nahezu immer sofortige Funkstille eintrat - die wenigsten haben sich daran beteiligt, anderen zu helfen, die noch in derselben Situation steckten, wie sie sie erfahren hatten. Ich kann das sogar nachvollziehen: Man möchte die schlechte Erfahrung einfach hinter sich lassen und vergessen. Es ist zwar Schade und man müßte eigentlich und überhaupt, aber warum ich?
Eine weitere Möglichkeit ist, dass sie diese Erfahrung nutzen, um sich nun mit anderen Gruppen, die noch immer diskriminiert und gekränkt werden, zu solidarisieren, da sie das Muster wiedererkennen, unter dem sie aus anderen Gründen gelitten haben. Das ist natürlich das beste Ergebnis, da das dazu führt, dass sich nach und nach auch was verbessert, und zwar nachhaltig. Wobei das ja nicht nur ein netter Zug anderen gegenüber ist, sondern auch die eigene Position stabilisiert - man sieht ja seit einigen Jahren, wie fragil freie Gesellschaften werden, sobald Populisten Minderheiten doch wieder als Sündenböcke benutzen.
Aber es gibt eben auch diejenigen, die die Prozesse nicht hinterfragen sondern sich so tief im gelernten System eingegraben haben, dass diese Erkenntnis ausbleibt. Dann übernehmen sie - weil sie sich nun in derselben Privilegiensituation befinden wie ihre Peiniger - genau dieselben Verhaltensweisen, nur nicht mehr als Opfer sondern als Täter. Denn die Prägung ist ihre einzige Realität. Ihr Problem war nicht, dass sie in einem System von Unterdrücker:innen und Unterdrückten leben, sondern nur, dass sie die Unterdrückten waren und auch nur Unterdrücker:innen sein wollen. Sobald sie die Seiten gewechselt haben, haben sie, was sie wollten. Nicht etwa Gerechtigkeit, sondern Macht und leider ist der Wille, diese Macht um jeden Preis zu behalten, dann so groß, dass sie zu intoleranteren, fanatischeren Unterdrücker:innen werden, als die, die in diese Privilegien hineingeboren wurden.
So kommt es, dass Nerds frauenfeindliche Chauvis sind oder Immigrant:innen gegen Flüchtlinge hetzen oder Feminist:innen trans Menschen unsichtbar machen wollen oder eben, dass Hippies mit Nazis auf Demos gehen. Der Vorgang ist derselbe: Hinter sich wird die Tür zugemauert, durch die man zuvor selbst reingekommen ist.
Das eine positive daran ist, dass der Anteil derjenigen, die die letztere Entwicklung machen, die Minderheit ist. Das zweite vielleicht an irgendeiner Stelle zumindest teilweise positive ist, dass es bedeutet, dass Menschen sich am Ende doch viel ähnlicher sind als man glaubt.
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