Stop to oder everything: A call for runterkommen.
Es gibt so ein paar Dinge, die heute anders sind als zu meinen Jugendzeiten. Was allerdings nicht dazugehört ist, dass die Welt gefährlicher geworden ist, die Spinner (egal, wen ihr persönlich als Spinner anseht) kurz davor sind, die Welt übernehmen oder eine Generation einer anderen (meint: eurer) die Zukunft in ein Jammertal verwandelt.
Was anders ist, sind folgende drei Umstände:
1.
Die Geschwindigkeit, in der wir von allem möglichen, was so auf der Welt passiert, etwas mitbekommen hat sich extrem erhöht. Das bedeutet aber nicht, dass wir auch schneller wissen, was genau passiert ist. Wir wissen nur früher, dass es passiert ist. Früher haben wir Stunden später in der nächsten Tagesschau oder am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren, was bekannt ist.
Bis dahin sind aber oft schon einige der Fragen beantwortet gewesen, die heute, wo wir quasi Sekunden später von einem Geschehnis erfahren, noch völlig offen sind und das einzige, was uns für Stunden berichtet wird ist, wie ratlos und ahnunglos Politiker, Polizei und andere Beteiligte sind. Die Phase, in der ein Sachverhalt geklärt wird, in der Aussagen als Fakten verifiziert oder als Gerücht falsifiziert werden, ist heute teil der News-Ticker, denn die müssen ja immer aktuell sein. Früher hat man von dieser Phase wesentlich weniger mitbekommen. Wenn wir das erste mal konkret informiert wurden was geschehen ist, gab es immer schon die groben Fakten dazu. Das führte zu einem gewissen Vertrauen, dass die Behörden ihre Arbeit machen.
Dadurch aber, dass wir nun live mitbekommen, dass für Stunden alle Fragen unbeantwortet sind, die Ermittlungen erst einmal in zehn falsche Richtungen gehen bevor sich ein klareres Bild ergibt und gleichzeitig aber schon zehn Minuten nach dem Ereignis Politiker oder "Experten" wissen sollen, was zum Geier wir denn jetzt nur tun sollen, führt das zu Verunsicherung und Misstrauen. Obwohl sich eigentlich an der Geschwindigkeit, in der sich die Welt verändert, nichts geändert hat.
2.
Man kritisiert ja momentan öfter mal, dass Soziale Medien uns erlauben, uns in Filterblasen zurückzuziehen, unliebsame Themen und Meinungen aus unserem digitalen Netzwerk herauszufiltern und uns in einer Echokammer einzurichten, in der wir nur noch unsere eigenen Ansichten bestätigen lassen.
Das allerdings ist - finde ich - eine gute Sache. Denn was uns die Digitalisierung beschert hat ist eine Transparenz, die wir früher nicht hatten: Wir bekommen plötzlich mit, wie Leute denken und sich äußern, die politisch auf radikalen Positionen stehen. Wir kriegen mit, wie viele Menschen welche - in unseren Augen völlig abwegigen - Thesen vertreten, an totalen Unsinn glauben und mit welcher Vehemenz für uns selbstverständliche Werte von anderen gehasst und verachtet oder was wir als Verirrungen und Vorurteile ablehnen von anderen geliebt oder verehrt wird.
Früher hatten wir, sorry für die Warner vor der Echokammer, wesentlich dichtere Filterblasen. Eigentlich haben wir die auch heute noch, außerhalb des Digitalen. Niemand käme auf die Idee, in eine Kneipe zu gehen, in der die Fans der gegnerischen Fussballmannschaft ihren Stammtisch haben. Kein Mensch kommt auf die Idee, auf einer Party Musik zu spielen, die nicht zu den Gästen passt (und dann zu sagen, man müsse sich doch auch die anhören, um ein toleranter Mensch sein zu können). Wenn ich ein Familienfest mache, lade ich nicht meine Arbeitskollegen ein. Ich habe Freunde, von denen ich weiß, dass sie sich nie verstehen würden, also treffe ich mich nie mit beiden gleichzeitig. Wenn ich beruflichen Smalltalk führe, rede ich im Normalfall nicht über Politik oder Religion.
Und: Wir gehen Menschen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen, aus dem Weg. Bewusst und - bedingt durch Sozialisation, Kompetenzen, Wohnort, besuchte Schulen Studien- oder Ausbildungsplätze - zu einem erheblichen Teil unbewusst. Wir geben uns nicht freiwillig mit Menschen ab, die wir verachten und wir suchen aktiv die Nähe zu denen, die wir bewundern oder mit denen wir uns verbunden fühlen.
Das Praktizieren dieser sozialen Konventionen schützt uns vor Stress und hilft uns, konstruktiv zu sein. Es immunisiert uns und macht "unsere" Welt überschaubar, vertraut und vermittelt uns ein Gefühl der Sicherheit. Es macht uns andererseits natürlich auch ignorant und hilft uns nicht, unsere Wahrnehmung zu korrigieren (zum Beispiel wenn es um Privilegien geht), Fehler zu entdecken und Voruteile abzubauen.
Aber: Was viele Menschen momentan in der digitalen Welt (und hier ist diese noch sehr getrennt von der echten Welt) erleben ist eine Kakophonie an Unterschieden, die sie vorher nie in dieser Menge und Wucht wahrgenommen haben. Sie werden konfrontiert mit tausenden sich zum Teil in unvereinbarer Absolutheit widersprechenden Ansprüchen, Weltbildern, Lebenseinstellungen und Wertekatalogen. Ihnen werden von allen Seiten Forderungen gestellt, die nie zufriedenstellend erfüllt werden können, weil zum Beispiel Informationen ungleich verteilt sind und die nötige Bildung und Sozialisation fehlt. Und selbst wenn man einige erfüllen kann, wird man dann von denen kritisiert, die die gegenteiligen Forderungen stellen.
Daher muss man auch in der digitalen Welt lernen, sich zu distanzieren, Filter zu setzen, Abstände einzubauen und sich abzugrenzen. Das ist erst mal nichts schlimmes, das haben wir schon immer so gemacht, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Wenn ich allen zuhören muss, höre ich vor lauter Lärm gar nichts mehr. Wenn ich mich verständlich machen will, muss ich Wege finden, nicht erst mal schreien zu müssen, um das ganze Rauschen zu übertönen (weshalb ich nicht in unmoderierte Medienforen kommentiere).
In dieser Phase befinden wir uns gerade und ich gehe davon aus, dass wir lernen, den Mittelweg aus Ignoranz und Offenheit zu finden, der uns dieselbe Sicherheit im Leben erlaubt, wie wir sie früher ohne digitale Kanäle erreichen konnten.
3.
Einer der häufigsten Gründe für mich, irgendwo etwas zu kommentieren, auf Twitter ein Reply zu schreiben oder jemanden anzusprechen ist mit der Frage verbunden, warum das Wort "oder" in einem Argument auftaucht. Ich habs an anderer Stelle schon mal versucht, zu beschreiben: Woran liegt es, dass man heute viel häufiger vor binäre "entweder - oder" Fragen gestellt wird, obwohl es weder notwendig ist, sich ausschließlich für eine der beiden vorgeschlagenen Alternativen zu entscheiden noch diese beiden Möglichkeiten die einzigen Lösungswege darstellen?
Beim Brexit wurde gefragt "In or Out", anstatt dass man sich alle Möglichkeiten überlegte, die für das Land möglich sind, die Implikationen erklärte und dann eine wirklich informirte Entscheidung über drei, vier oder noch mehr gangbare Alternativen möglich gewesen wäre, die nicht eine Spaltung der Nation verursacht hätte.
Denn das tun diese schwarz-weiß Argumentationen, in denen es imm nur um entweder/oder geht. Die Zustimmung zum Einen impliziert immer die Ablehnung des Anderen. Was dazu führt, dass es nie das gibt, was eine Demokratie ausmacht und eine diverse Gesellschaft befähigt, Unterschiede zuzulassen: Kompromisse.
Aber auch unsere Handlungsfähigkeit wird dadurch extrem eingeschränkt. Man kann nicht mehr ausprobieren oder testen. Man kann es nur noch richtig oder falsch machen. Und ob etwas richtig oder falsch ist, beurteilen die anderen. Selbstverständlich sind richtig und falsch dann auch noch absolut. Das heißt, was für mich richtig ist, kann für jemanden anderen auch nur richtig sein. Was ja Unsinn ist, denn jeder Mensch befindet sich ja in einer anderen Position, hat andere Stärken und Schwächen, folgt anderen Interessen oder Weltanschauungen und verfügt über andere Möglichkeiten (zb Geld, Bildung, Kontakte, Körpereigenschaften).
Das ist ein Problem. Und es gibt ein weiteres: Sobald man Verständnis - nicht etwa Zustimmung - für eine Ansicht zeigt, steht man schon auf der Gegnerseite. Denn eine Welt aus "oder" kennt ja nur Gegensätze. Die "oder" Welt erlaubt keine Alternativen, die das Problem für beide Seiten lösen und keinen Kompromiss, mit dem alle leben könnten. Geschweige denn, einen Pluralismus, der den anderen einfach ihre Meinungen, ihre Lebensstile, ihre Sexualität oder ihre geliebten Freizeitbeschäftigungen haben lässt, die ich für mich eventuell ablehne, mit denen ich aber gar keine Berührung habe. Keine Homoehe macht eine Heteroehe ungültig. Keine Religion befindet darüber, woran ich glaube und woran nicht. Kein Pokemon-Go Spiel installiert sich automatisch auf mein Handy und zwingt mich, kleine Monster zu fangen. Allerdings würde ich, wenn ich es täte, auch nicht automatisch verblöden.
Denn ein weiteres Problem, das es nur in der "oder"-Welt gibt ist, dass wer das eine tut, das andere automatisch nicht tut. Die "Oder"-Welt besteht nur aus "anstatt". Ein "sowohl - als auch" ist darin ausgeschlossen. Ich kann aber sowohl Computerspiele genießen als auch lange Wanderungen machen. Ich kann mich sowohl über Umweltschutz informieren und entsprechende Maßnahmen treffen als auch mit ner Tüte Chips einen schnulzigen Liebesfilm anschauen. Ich kann mich sowohl kritisch zu bestimmten Vorgängen in den USA äußern als auch zu bestimmten Vorgängen in Russland und gleichzeitig sogar an beiden Ländern viele Dinge mögen. Ich kann mich sowohl für die Stärkung der EU einsetzen als auch Kritik an ihrer Finanz- und Austeritätspolitik äußern. Denn eigentlich ist die Welt eine "und"-Welt. Aber das scheint man leider etwas vergessen zu haben.
In einer "und"-Welt kann man plötzlich Verständnis entwickeln, ohne dass das eine Zustimmung ist. Man kann Empathie haben und gleichzeitig seine Sympathie oder Antipathie behalten. Man hat plötzlich immer mehr als nur zwei Optionen.
Fazit:
Das sind drei Umstände gewesen, die heute anders sind als früher. Zumindest in meinem Leben und in meiner Wahrnehmung. Ich habe sie weder umfassend betrachtet noch sind diese drei Punkte die einzigen. Es sind nur die, die mir in letzter Zeit verstärkt auffielen.
Gibt es daraus eine Erkenntnis?
Ich glaube schon. Zum Beispiel die, dass die Welt nicht komplizierter geworden ist, sondern nur lauter und dass wir es selbst in der Hand haben, die Lautstärke wieder auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Man muss nicht jedem Liveticker folgen, wenn man die Unsicherheit schlecht aushält. Man muss sich nicht mit allen Menschen, ihren Meinungen und ihren Diskussionen beschäftigen, wenn einen das lähmt, ängstigt oder ärgert. Man muss nicht entweder alle Ereignisse verfolgen und jeden Menschen akzeptieren oder sich völlig abschotten und nur noch mit gleichgesinnten sprechen. Man kann sich auch seine ganz persönliche Komfortzone einrichten, indem man hier ein wenig und dort etwas mehr reguliert. Man kann mit angenehmerer Lautstärke beginnen, nicht alles in Hitler oder Jesus einzuteilen. Man kann seine Geschwindigkeit anpassen, man kann aufhören, binäre Fragen zu beantworten und stattdessen beginnen, zu überlegen, ob sie überhaupt relevant sind und wenn ja, wie die besseren Antworten lauten, die irgendwo zwischen Ja und Nein liegt.
Man kann mal runterkommen und kapieren, dass runterkommen nicht dasselbe ist wie Ignoranz, nur weil runterkommen in der schwarz-weiß Welt nicht auf der "Oh Gott, wir werden alle sterben wenn wir nicht sofort was tun!"-Seite steht.
Und am Ende geht es einem besser, man ist immer noch gut informiert, hat Zeit für die Dinge, die einem wichtig sind und hat immer mehr als nur zwei Optionen.
6 Kommentare


Danke.

Einfach nur danke - für diesen wichtigen feinen Text.

dafür
Kommentar von: Stefan Ludwig [Besucher]

Danke für diese präzisen, schlauen Beobachtungen.
Kommentar von: Thomas Heidemann [Besucher]

Gut beobachtet und auf den Punkt gebracht, spricht mir aus der Seele. Danke dafür.
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Toller Artikel, danke dafür, lieber Jens!