Das Netz vergisst nicht nichts! (Warum es Dauermythen über das Internet gibt)
Es gibt ja diese Mythen über das Internet: Es sei ein rechtsfreier Raum; es vergisst nichts; es ist eine Klowand, auf der Menschen unter dem Schutz der Anonymität andere verunglimpfen und beleidigen... überhaupt, diese Anonymität: Der Grund für den totalen Verfall von Anständigkeit und Ehrlichkeit.
Was ist dran an diesen Behauptungen? Immerhin scheinen diese Gefahren und schlechten Eigenschaften des Internets ja so schwerwiegend zu sein, dass sie seit Jahren regelmäßig Thema bei Politikern und Medienvertretern aller Fraktionen sind. Andererseits: Wäre das Internet tatsächlich so, wie es dargestellt wird, muss es einen ja schon wundern, dass es überhaupt noch existiert - es scheint ja kein Entkommen vor Kinderschändern, Betrügern und aggressivem Mobbing zu geben. Wenn man den Fehler macht, irgendetwas privates ins Netz zu schreiben oder ein Foto hochzuladen steht man schon mit einem Bein im Gefängnis, verliert all sein Geld, setzt seinen Job aufs Spiel oder bekommt erst gar keinen. Die Welt scheint am Rande des Unterganges, weil Terroristen und Kriminelle völlig ungestört das Netz für ihre finsteren Pläne nutzen können. Und süchtig und einsam wird man davon auch noch unweigerlich.
Natürlich ist jedem, der sich mal eine Weile im Netz bewegt hat, irgendwann klar, dass es hier eine Diskrepanz zwischen der eigenen Wahrnehmung und der von - sagen wir mal - bestimmten Politikern oder Vertretern von Ordnungsbehörden oder von Prä-Internet-Medien besteht. Niemand "stolpert" über Kinderpornographie - im Gegenteil: selbst wenn man danach sucht, findet man normalerweise keine. Kein Mensch kennt wirklich jemanden, der einen Job nur deswegen nicht bekommen hat, weil der Personalchef ein Partybild auf Facebook gefunden hat. Wenn man ins Internet Sachen schreibt und dabei einigermaßen darauf achtet, dabei einen vernünftigen Ton zu behalten wird in zwanzig Jahren keine teure Abmahnung bekommen. Man bekommt den Eindruck, hier wird ein vor allem sehr nützliches, unterhaltsames und kommunikationsförderndes Medium auf völlig überzogene Weise verteufelt.
Warum passiert das? Zunächst ist das Ziel von Schreckensgemälden immer, wirtschaftliche oder politische Kontrolle zu steigern oder zu erhalten und das auch noch mit dem Einverständnis der Kontrollierten - um dieses Einverständnis zu bekommen, ist es am Leichtesten, den Menschen Angst zu machen und bei ihnen dadurch den Bedarf nach Kontrolle zu wecken. Denn das Maß an Kontrolle über das Internet ist natürlich ein Machtfaktor: Je mehr Kontrolle ich durchsetzen kann, desto mehr Macht habe ich. Für die Wirtschaft ist Macht Geld, für die Politik ist Macht... naja Macht halt. Macht zu haben bedeutet, Vorteile gegenüber den Nicht-Mächtigen zu haben. Man kann teurer Dinge verkaufen, von deren Herstellung ich mehr Menschen ausschließe - ob durch Verhinderung des Wissensaustausches oder durch Illegalisierung. Die Musikindustrie z.B. hat es durchaus geschafft, die Einführung des legalen Vertriebs digitaler Musikdateien sehr lange auszubremsen, denn jeder Tag, über den man die gegenüber digitaler Medien mit wesentlich höheren Gewinnspannen verkaufbaren CDs retten konnte, war viel, viel Geld wert. Und so agieren auch alle anderen Branchen, deren Geschäftsmodelle durch den Verlust der Kontrolle über die Herstellung und den Vertrieb ihrer Waren durch Digitalisierung und neuen oder verschobenen Veröffentlichungs- und Vervielfältigungsmöglichkeiten in Gefahr geraten sind.
Im Prinzip geht es Politikern da nicht anders: Auch ihr Wissens- und daraus folgender Handlungsvorsprung ist ein auslaufendes Geschäftsmodell. Sie haben letztes Jahr schmerzhaft lernen müssen, dass man keine Milliardenbauprojekte mehr in abgeschlossenen Hinterzimmern planen und entscheiden und die Bürger am Ende vor vollendete Tatsachen stellen kann. Die Empörung und Enttäuschung mancher Politiker über den Verlust ihrer Privilegien ist täglich erlebbar. Das Internet bietet nämlich inzwischen jede Menge Möglichkeiten und hat jede Menge Eigenschaften, die den Mächtigen Macht wegnehmen und in Richtung der vormals machtlosen Bevölkerung verschiebt: Für die gewohnte ungestörte Ausübung von Macht sind Transparenz, Verfügbarkeit von Informationen, offene und schnelle Kommunikationswege und von kontrollierten Medien unabhängige Reichweiten zum Leidwesen mancher tödlich und sie reagieren darauf mit der Suche nach Möglichkeiten, verlorene Kontrolle zurückzuerlangen.
Das ist - das möchte ich an dieser Stelle mal anmerken - übrigens nicht unbedingt böse gemeint, eventuell nicht einmal eine Entscheidung aus der bewussten Reflektion heraus sondern sie glauben wirklich daran, dass hier eine gute, funktionierende Ordnung in höchster Gefahr ist. Wir alle reagieren ja nicht gut auf Veränderungen, die unsere Gewohnheiten betrifft. Man muss sich da nur alle paar Monate das Geschrei anhören, wenn Facebook mal wieder seine Oberfläche ändert.
Was tut man also, um Kontrolle über etwas wie das Internet zu erlangen? Ich habs zu Beginn schon kurz angeschnitten: Man sucht nach Gründen, es kontrollieren zu müssen. Und gute Gründe sind immer Gefahren. In den Zeiten, in denen noch nicht so viele Menschen das Internet nutzten war es leicht, diese Gefahren zu beschwören. Man musste nur platt argumentieren: Wahlweise musste man nur sagen, da treffen sich Nazis, Jugendgefährder, Terroristen oder das Organisierte Verbrechen im Internet. Was natürlich stimmt, aber das tun sie auch seit je her draußen auf der Straße. Nur haben wir gelernt, zu akzeptieren, dass auf der Straße fremde Menschen völlig anonym herumlaufen und wenn sie uns ansprechen, zu bewerten wann es nötig sein würde, Belege für ihre Behauptungen über z.B. ihre Identität zu verlangen.
Warum also muss man uns vor Gefahren im Internet schützen, die außerhalb davon genauso existieren und wo wir selbstverständlich darauf verwiesen werden, ja nunmal mündige Bürger zu sein? An die grundsätzlich böse Absichten glaube ich nicht, auch wenn es einfach ist, sie zu konstruieren (vor allem weil ich ja schon über das Interesse am Machterhalt geschrieben habe). Ich glaube, der Hauptgrund ist, dass der Anteil der Menschen, die sich noch nicht an die durch das Internet veränderten sozialen Verhältnisse gewöhnt haben, noch sehr hoch ist und dass diese Menschen momentan auch noch den größeren Anteil der politischen Entscheidungen trifft. Ganz wichtig: Auch der Verlust von Machtlosigkeit ist eine Veränderung, gegen die sich jede Menge Menschen wehren.
Die Internetmythen sprechen alle genau diese Sprache. Es sind viel mehr Ängste als Fakten: Das Internet ist alles andere als ein rechtsfreier Raum, aber ich kann Landesgrenzen überschreiten und mich somit auch in anderen Rechtssystemen befinden, wo z.B. das deutsche Urheberrecht nicht gilt sondern das eines anderen Landes. Ich muss mich daran gewöhnen dass ich das kann und eventuell habe ich zu lernen, dass wenn ich Internetdienste in den USA verwenden will, ich mich deren von den deutschen abweichenden Datenschutzbestimmungen unterwerfe.
Das Internet vergisst nichts? Ich bin seit knapp 20 Jahren online und blogge seit 10 Jahren: Was an Informationen und Links in dieser an sich kurzen Zeit verschwunden ist kann man sich sogar ansehen: So gut wie kein Link in meinem Blog, der älter als zwei Jahre ist, funktioniert noch, selbst im "Klowand"-Artikel sind die über 200 Kommentare für immer verschwunden, weil es den damals verwendeten Kommentardienst nicht mehr gibt. Was ich mir in den letzten 10 Jahren nicht lokal gespeichert habe ist verschwunden. Was ich davon versehentlich gelöscht habe - z.B. alle meine privaten Mails, die ich Update für Update seit 1996 mitgenommen, aber beim letzten Umstieg auf Windows 7 schlicht vergessen habe zu sichern: unwiederruflich weg. Digitale Fotos und Bilder, die älter als 7 Jahre sind: Komplett unbrauchbar auf Grund der steinzeitlichen Auflösungen. Dass einem Menschen durch Verunglimpfungen und verbreiten peinlicher Fotos das Leben schwer machen können: Gab es immer schon und wird es immer geben. Dass das auch im Internet passiert: Daran werden wir uns gewöhnen, wir werden lernen das genauso zu ignorieren wie den lautstarken Streit eines Pärchens im Bus. Nur weil das im Internet etwas neues ist heißt es nicht, das es generell etwas neues ist.
Was neu ist ist dass alles etwas transparenter wird: Auch zu meiner Schulzeit gab es grausame Mobbingaktionen. Die Opfer waren komplett hilflos und den Mobbern ausgeliefert, denn die Schulen hatten vor allem ein Interesse: Den Erhalt der Ordnung. Mobbingopfern wurde kaum geholfen, viel wichtiger war es, dass alles hinter verschlossenen Türen blieb und nicht nach draußen drang. Opfer, die in ihrer Verzweiflung versuchten, Öffentlichkeit zu erreichen, waren für Rektoren oft genug die wahren Störenfriede. Wenn z.B. isharegossip.com etwas erreicht hat dann, das ohnehin vorhandene Mobbing sichtbar zu machen. Insoweit bin ich, als ehemaliges Opfer, sogar dankbar dafür, dass das passiert ist. Denn was plötzlich auch geschehen ist: Die Mobber sind exponiert. Man kann sie und das was sie tun sehen, man kann den Opfern nicht mehr sagen "Du stellst Dich doch nur an".
Egal welchen dieser Mythen wir uns also ansehen: Es geht eigentlich immer nur darum, dass wir uns in einem Umgewöhnungsprozess befinden und uns das zunächst unangenehm ist. Wir suchen Gründe, uns dagegen zu wehren, dass sich Dinge ändern und das funktioniert damit, dass wir uns die Nachteile heraussuchen, deretwegen wir Veränderungen doof finden und vermeiden können. Nicht dass das möglich wäre, aber das schlechte Gefühl scheint uns ein gutes Gefühl zu geben, so seltsam das uns hinterher auch vorkommt, wenn wir im Rückblick immer wieder erneut feststellen, dass die ganze Aufregung eigentlich übertrieben und nicht nötig gewesen wäre.
Wir sind schon komisch, nicht?
Dieser Text zum Anhören:
9 Kommentare
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]
Der Punkt ist: Es gibt am Ende immer einen Menschen, der sich an etwas erinnern und sich entscheiden muss, etwas hervorzukramen, was ggf schon lange her ist. Das ist aber auch etwas, was es genauso ohne Internet gibt. Auch das ist einfach nur eine Veränderung der Art und Weise, aber nicht des Motivs - Rufmordkampagne oder Legendenjubel sind zwei Seiten derselben sehr alten Medaille. Beides gibts schon in der Bibel.
entscheiden - oder einen namen in die suchmaschine eingeben, dazu braucht es kein erinnern.
Kommentar von: jensscholz [Mitglied]
Kennst Du eine Person, die deswegen _dauerhaft_ ein Problem hatte? Wegen irgendetwas, das länger als drei Jahre her ist?
Manchen Mythos - und manche Angst bei entsprechenden Leuten - haben “wir” auch mit zu verantworten: gerade das “das Netz vergisst nichts!” war stets die Drohung von “uns” gegenüber Leuten, die “uns” im Netz - also in “unserem” Medium, auf “heimischem” Gelände, angriffen. Blöd, dass sie uns das geglaubt haben. Und blöder, dass ihnen das auch noch (zu Recht, wenns stimmte) so viel Angst machte, dass sie das in ihrer Überzeugung, dieses “Internet” endlich unter Kontrolle zu bekommen, grade noch mal bestärkte. (und ansonsten auch: so ist das wohl. Ängstliche alte Männer http://www.svenscholz.de/index.php/terror-furs-wirtschaftswachstum/#comment-7741 und Leute, die ihre althergebrachten Privilegien und Pfründe verschwinden sehen in Personalunion. Ganz üble Kombination)
ich nicht persönlich, allerdings wird man es z. b. nie erfahren, wenn eine bewerbung abgelehnt wurde wegen solcher recherchen. und die beiträge im google-thread lesen sich teils schon heftig. ich würde mir diesen speziellen teil betreffend doch etwas mehr flüchtigkeit wünschen.
Ja, es gibt eine Menge Menschen, die privates “Zeugs” ins Netz stellen, teils anonym, teils mit vollem Namen. Vielleicht wird man in 20 Jahren private Informationen nicht mehr so kompromittierend finden wie heute, die Werte verändern sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen. Ich blogge auch Privates, allerdings anonym.
Das Nichtverstehen mündet sehr oft in Angst, das kann man in so vielen Bereichen sehen. Kontrolle ist eine Möglichkeit der Angstbekämpfung; ist Kontrolle nicht möglich, muss alles getan werden, um Kontrollinstrumente zu installieren.
Im Grunde geht es nur um Angst.
Kommentar von: Fadir [Besucher]
computer funktioniert nicht
Kommentar von: Christine [Besucher]
Der Hauptaspekt an dem Geschriebenen ist, dass Machtstrukturen sich (hoffentlich) durch die Transparenz ändern. Und so hilflos wie da einige wirken - siehe “CDU Sommerfeste” auf facebook - da denkt man automatisch daran, den Internetführerschein zur Pflicht auch für CDU Mitglieder empfehlen zu wollen.
Mithilfe des Internets können sich Betroffene blitzschnell vernetzen, die bislang einer monopolartigen Informationspolitik von bestimmten Interessengruppen machtlos gegenüberstanden. Und ja, da müssen sich einige noch dran gewöhnen.
Aber das wird schon - nur den Geist des Internets, den kriegt keiner mehr in die Flasche zurück. Gott sei Dank.
Formular wird geladen...
das netz vergisst zwar eine menge, aber doch weniger, als einem manchmal lieb ist. vieles ist über archive.org erhalten, und dann gibt es in den google-groups, die via dejanews sich das ehemalige usenet und fidonet in großen teilen einverleibt haben, einen haufen nie für die öffentlichkeit gedachter postings, die häufig nicht mehr gelöscht werden können, weil die zugehörigen mailadressen nicht mehr existieren und auch nicht mehr rekonstruiert werden können, siehe dazu diesen “dauerbrenner” im google-forum:
http://bit.ly/mw8ihQ
insofern sollte man sich nicht zu sehr darauf verlassen, dass inhalte im netz flüchtig sind - auch wenn man deshalb nicht hysterisch werden muss.