"Ambiguitätstoleranz"
Ich bin ein großer Verfechter von Pluralismus. Viele meiner Blogeinträge handeln davon, nicht in binäre Logik zu verfallen, ein "und" statt ein "oder" zu denken und dass mehrere Lösungen erlaubt und richtig sind, weil Probleme eben viel öfter mehrere Lösungen haben als nur eine. Und wenn man weiß dass es nicht nur einen Weg zum Ziel gibt, kommt man schneller an.
Oft wird die Erkenntnis, dass Dinge mehrdeutig sind, als Belastung und als anstrengend betrachtet. "Kann denn auch mal was einfach und eindeutig sein?" hört man durchaus häufiger in letzter Zeit. Bzw liest diese pseudophilosophischen Bildchen, die genau das propagieren; dass mit genug Abstand alles ganz einfach sei.
Ich meine, dass das Gegenteil der Fall ist und die vermeintliche Anstrengung nur daher kommt, weil wir hier gegen eine etablierte Konvention angehen. Es ist halt nichts einfach, selbst wenn ich alles schön schwarz-weiß male. In diesem Fall funktioniert eine Lösung nur, wenn ich 100% Zustimmung dafür bekomme oder ich so viel Macht habe, dass ich mich über die Verfechter*innen der anderen Seite hinwegsetzen kann. Das ist viel anstrengender und frustrierender (weil man in einer Welt in der es nur gewinnen oder verlieren gibt selbst bei einem Teilerfolg das Gefühl hat, gescheitert zu sein), als mir eine andere, weniger absolute Lösung zu überlegen. Dazu muss ich aber verstehen, dass es eben nicht nur zwei gibt.
Das zeigt auch auf, wieso populistische Parteien erstens niemals kompromissfähig sein werden und zweitens am Ende immer autoritär agieren müssen. Denn ihre absoluten Lösungen werden nie eine 100%ige Zustimmung bekommen, also brauchen sie so viel Macht, dass sie die Ablehnung unterdrücken können. Was an der populistischen Sicht auf Dinge so verführerisch ist: dass sie "einfache Lösungen" verspricht. Die funktionieren aber halt nicht - zB weil Ausländer eben nicht Schuld an Altersarmut sind und Populisten somit nur Hass oder Angst vor Einwanderern erzeugen, aber eben keine Lösung für Rentner*innen, wodurch die Altersarmut bleibt (oder gar steigt, denn Immigration junger Menschen würde sie ja sogar verhindern).
Der Begriff für den Umgang mit Mehrdeutigkeit ist Ambiguitätstoleranz. Bei Deutschlandfunk Kultur gibt es aktuell einen Podcast darüber.
1 Kommentar
Kommentar von: Dr. Big Man [Besucher]
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“Es ist halt nichts einfach, …“ - doch, doch: Mathematik ist einfach. Hat jedenfalls der tragischerweise kürzlich an CoVID-19 verstorbene Mathematiker John Horton Conway gesagt. Und wenn der es nicht weiß - wer dann?
“You know, people think mathematics is complicated. Mathematics is the simple bit. It’s the stuff we can understand. It’s cats that are complicated.“
https://www.azquotes.com/author/44458-John_Horton_Conway