Seit einigen Jahren beobachte ich so eine Art systemische Krankheit in Wirtschaft und Politik: Weitermachen, so lange es irgend geht. Zum Teil kennt man das unter dem Begriff "ein totes Pferd reiten", aber ich finde, das trifft es nur zum Teil, denn tot ist das Pferd nicht wirklich - es scheint sich ja zu lohnen: Das Phänomen scheint vor allem dann aufzutreten, wenn es darum geht, den Verlust eines im Ablaufen begriffenen Vorteils möglichst lange hinauszuzögern.
Das erste mal bewusst beobachtet habe ich das bei den Bemühungen der Musikindustrie, die CD als Medium so lange wie möglich am Leben zu erhalten und in einer scheinbar dummen Ignoranz alle sich bietenden neuen Vertriebsmöglichkeiten zu bekämpfen und die Nutzung von zeitgemäßer Technik zu kriminalisieren statt sie zu adaptieren. Letztlich aber hat man es doch geschafft, ein extrem lukratives Geschäftsmodell - der Verkauf von CDs - noch viele Jahre künstlich am Leben zu halten. Ein Deja Vu befällt mich daher auch, wenn ich sehe, wie zur Zeit einige Buch und Zeitschriftenverlage agieren.
Letztendlich ist das alles ärgerlich, aber vergleichsweise harmlos zu den Problemen, die man bekommt, wenn man dieses Verfahren auf Gebiete anwendet, bei denen es nicht reicht, einfach nicht drauf reinzufallen. Zum Beispiel in der Finanzwelt, wo das Schulden machen mit noch mehr Schulden machen kompensiert wird so lange es eben irgendwie geht. Eigentlich sind wir schon längst über dem Punkt hinaus, an dem unsere Finanzsysteme ordentlich funktionieren, aber anstatt wirklich etwas zu verändern wird hier auf Probleme mit Methoden und Prozessen reagiert, die diese Probleme eigentlich erst verursacht haben. Weil es so noch ein paar Monate geht und danach wieder, weil es so noch ein paar Monate mehr geht.
In der Politik ist das dann völlig fatal: Unser Sozialsystem, unser Gesundheitssystem und unser Arbeitssystem funktionieren schon seit Jahren nicht mehr, aber alles was es an "Reformen" gibt stützt nur das, was es schon gibt aber ja nun mal nicht mehr funktioniert.
Bei der Atomkraft letztendlich wird es dann wirklich gefährlich: Die Laufzeiten unserer Atomkraftwerke ist eigentlich schon längst abgelaufen. Aber sie wurde immer wieder verlängert, selbst der rot-grüne Atomausstieg war im Prinzip noch eine letzte Laufzeitverlängerung - für die es dann durch die aktuelle Regierung dann eine nochmalige Verlängerung oben drauf gab. Und ich glaube fest daran, dass es auch noch eine weitere gegeben hätte.
Das Problem mit diesem Prinzip "Weitermachen, so lange es geht" ist ja, dass es irgendwann nicht mehr geht.
Bei Musikindustrie und Verlagen ist das relativ harmlos: Entweder ändern die sich dann am Ende doch oder gehen eben mit samt ihrem alten Geschäftsmodell unter. Bei unseren Sozialsystemen ist das schon schwieriger. Da sollte man nicht drauf warten, bis man sich vor lauter Weitermachen in eine Sackgasse manövriert - aus der kommt man aber im Zweifelsfall wieder raus, allerdings wird man dann eine oder zwei Generationen abhängen und "opfern" müssen. Das Problem: Da wäre ziemlich sicher meine Generation dabei. Ein guter Grund für uns, hier endlich aktiver zu werden.
Das immer noch mal ein paar Jahre aufschieben einer echten Energiereform allerdings ist etwas, das eigentlich überhaupt nicht passieren dürfte. Denn wenn wir annehmen, dass dieser Fehler so lange gemacht wird, bis das alte System wirklich unrettbar zusammenbricht bedeutet das, dass unsere Atomkraftwerke so lange am Laufen gehalten werden, bis sie kaputt gehen.