2006 musste man als bekannter Werbechef nicht unbedingt ganz weit vorne sein, wenn es darum geht, das Internet und seine Nutzer zu verstehen. Als Dienstleister zur Produktion bunter Bilder zum Anpreisen von Mainstream-Produkten reichte es aus, den Mainstream zu kennen. 2006 waren der Mainstream nicht: Blogs. Daher war Jean-Remy von Matt damals so überrascht von ihrer Existenz, dass er damit berühmt wurde, sie komplett fehl zu interpretieren. Es nannte sie "Klowände des Internet" und glaubte, Blogger seien anonyme Kellernerds.
Da von allen Menschen, die damals irgendwas ins Internet schrieben, ausgerechnet Blogger am wenigsten anonym noch im Keller herumvegitierende Techniknerds waren (wir hatten alle damals schon ein Impressum, viele bloggten mit Klarnamen und schon damals war das Alters- und Geschlechterverhältnis nahezu ausgeglichen) gab es für Herrn von Matt ordentlich Gegenwind. Und es war innerhalb der Werbebranche auch nicht wenig peinlich, denn als jemand, der von Berufs wegen Zielgruppen kennen sollte lag er ja echt mit allem daneben.
Neun Jahre sind vergangen. Viel Zeit, um zu lernen, aufzuholen, sich ein Bild zu machen. Seit damals gibt es viele neue Plattformen: Twitter, Youtube, Facebook (und Messenger: Das Hauptkommunikationsmedium im Internet, das lustigerweise keiner unserer Werbespezis auf dem Schirm hat) und vor allem schreiben nicht mehr nur ein paar Bloggerinnen und Blogger ins Netz sondern wirklich alle.
Da sollte man meinen, dass er sich inzwischen etwas besser informiert hat.
Tja:
Ich erinnere an Ihr legendäres Zitat „Blogs sind die Klowände des Internet“. Das war vor neun Jahren. Damals gab es Facebook in Deutschland noch gar nicht. Heute hat dessen Wall zuweilen aber durchaus Ähnlichkeit mit einer Klowand.
Von Matt: Nein, ganz und gar nicht, denn Facebook funktioniert ja praktisch nur mit Klarnamen. Mit meinem Zitat war das Denunzieren und Diffamieren im Schutze der Anonymität gemeint, das man bei Kommentaren in Blogs und Foren erlebt. Und wenn dieser Satz keinen Nerv getroffen hätte, wäre er nicht sogar in der „New York Times“ zitiert worden. Facebook ist aber alles andere als eine Klowand, eher der Schminkspiegel des Internets.
(Quelle: Horizont)
Ich drösele mal Satz für Satz, denn die Wahrheit ist natürlich eine andere:
1. Dass Facebook praktisch nur mit Klarnamen funktioniert ist eine geradezu herzige Fehlannahme, der man aber gut auf den Leim gehen kann - wenn man Facebook nicht selbst verwendet und glaubt, was deren Marketingabteilung Werbern und werben wollenden erzählt. Allein in meiner Kontaktliste sind ein gutes Drittel der Namen Pseudonyme. Klarnamen nutzen vor allem die Älteren.
Dass Facebook - momentan wieder verstärkt - offensichtlichen Pseudonyme zur Angabe ihrer Klarnamen zwingen will stimmt zwar, aber das sorgt lediglich für viel mehr Fehlinterpretationen, denn die Leute schreiben dann eben "echt klingende" Namen hin und man erkennt somit hinterher nicht mal mehr direkt, dass es sich um ein Pseudonym handelt. Menschen, die glauben, man kann Nutzer mit "echten" Namen ernster nehmen als Nutzer mit offensichtlichen Pseudonymen lassen sich dadurch auch ganz wunderbar ins Bockshorn jagen.
2. Das Zitat auf die Kommentare unter Blogbeiträgen umzumünzen war damals schon ein durchschaubarer Trick: Er hat sich damals einfach über die Blogs geärgert, die seine bescheuerte "Du bist Deutschland"-Kampagne massiv kritisiert und durch den Kakao gezogen haben. Das waren ganz klar Blogs, nicht Kommentare und genau so hatte er das damals auch gemeint und geschrieben. Ich bin seit dem Kindergarten nicht mehr mit "Aber ich habe gemeint..."-Formulierungen durchgekommen, wenn ich mal was dummes gesagt habe. Aber das ist in der Scheinwelt der Werbung wohl anders.
3. Ui, die New York Times hat ihn zitiert (das ist auch schon wieder lustig, wie er damit seit Jahren hausieren geht - man findet jede Menge Medien-Artikel von damals, nur nichts in der NYT). Stimmt, die internationale Presse hatte ihn als Beispiel für einen Medien-Menschen herausgestellt, der den Anschluss an die Digitalisierung verpasst hat, davon überrascht wurde dass die Öffentlichkeit mit dem und im Internet eine Stimme bekommen hat und dann ganz altmodisch onkelig beleidigt war. Tolle Leistung. Aber auch das ist ja in der Werber-Welt egal: Da glaubt man ja sogar heute noch daran, dass jede Form der Aufmerksamkeit was Gutes ist.
4. Facebook ist sicher für den ein oder anderen auch mal ein "Schminkspiegel", aber offensichtlich verwechselt von Matt seine Filterbubble (oder die der Menschen, die er gefragt hat, was sie eigentlich in diesem Facebook machen) mit dem Rest der Welt. Facebook ist ein soziales Netzwerk. Die meiste Kommunikation darin findet - Überraschung - nicht öffentlich sondern in Gruppen, in auf Freunde beschränkten Profilen und vor allen Dingen in persönlichen Messenger-Nachrichten statt (hier befindet sich zum 2.Mal in diesem Artikel ein Tipp). Der neue Vergleich sagt also wie damals schon viel mehr über den Blick von Werbern aus, die Menschen als eine Art unterhaltungssüchtige Schafherde betrachtet, der sie nur an den richtigen Stellen auflauern und mit ihren "Botschaften" füttern muss.
Die ausgewiesenen Facebook-"Schminkspiegel" nennen sich Facebook-Pages und werden meistens für und von Menschen betrieben, die irgendwas in der Öffentlichkeit tun. Und das ist dann Werbung. Erstaunlich, dass er nicht mal in seinem eigenen Metier... aber auch das hatten wir ja schon.