Wir befinden uns ja momentan in einer wirklich interessanten Umbruchphase, die mit einem Paradigmenwechsel enden wird. Gut erkennbar ist sie inzwischen, vor allem wegen des Backlashs derjenigen Kräfte, die in den vorherigen Paradigmen groß und vor allem mächtig geworden sind. Ich spreche hier nicht einmal von einem besonders alten Paradigma. Die Art und Weise, über Medien zu kommunizieren und darüber mit einer bestimmten Art von PR-Arbeit - also z.B. über offizielle Verlautbarungen, inoffizielle Indiskretionen, mit zielführenden Fragen vorraussehbare Umfragen usw. - für seine Ziele zu werben ist erst ein paar Jahrzehnte alt und wohl in der Ära Kohl und dem damaligen Medienwandel, der u.a. die Eröffnung des privaten Fernsehmarktes zur Folge hatte, abgeschlossen gewesen. Sie wurde Normalität. Jeder unter dreißig kennt nichts anderes, jeder über dreißig kennt sich damit recht gut aus, denn er hat den Wechsel miterlebt.
Verursacht haben den damaligen Paradigmenwechsel diejenigen, die heute die Medienlandschaft - ich spreche von TV und Print - und die politische Landschaft bestimmen. Sie waren zunächst eine Avantgarde, Revoluzzer, die 68er zum Beispiel. Sie waren den vorletzten Paradigmenvertretern so gefährlich, dass man sie dämonisierte, ihnen Verantwortungslosigkeit, Gottlosigkeit, moralische Verkommenheit und vieles mehr vorwarf, was lediglich Ausreden waren, um sie nicht ernst nehmen zu müssen. Man erklärte sie zu Extremisten und Gefährdern, um sie in Karteien erfassen zu dürfen, zu überwachen, sie aus Karrierepfaden herauszuhalten, über die sie eventuell zu Einfluss gekommen wären.
Sie haben aber den Einfluss irgendwann dennoch bekommen. Sie haben die Medien übernommen und stark gemacht, konnten über diesen Weg senden und eine neue Machtposition erringen: Die Macht über die Informationsvermittlung. Plötzlich mussten Politiker mit und in Medien ihre Pläne diskutieren und nicht einfach nur ihre Verlautbarungen aushängen, respektive zum gefälligen Senden bei den Öffentlich Rechtlichen abgeben.
Die Privatsender wurden damals von den Politikern auch lange mit allen Mitteln bekämpft. Als sie dann doch da waren, wurden immer wieder ihre Inhalte reguliert und ständig kritisiert. RTLs Schmuddelsendungen waren womöglich wirklich dumm, aber es ging nicht um den Inhalt sondern um das Signal: Wir wollen auch dummes Zeug sehen und wir wollen nciht, dass der Staat bestimmt was wir sehen dürfen. Und es wurde angeschaut nicht weil es besondern gut war, sondern weil man das Gefühl hatte, hier etwas tun zu dürfen, was Jahrzehnte irgendwie "nicht erlaubt" war. Man hätte sich dafür natürlich bessere Inhalte wünschen können, aber es waren damals nun mal die "Liebesgrüße aus der Lederhose" und dass das Zeug heute nicht mehr gesendet wird ist in diesem Sinne auch logisch.
Man musste sich aber irgendwann daran gewöhnen, dass die Welt nicht untergegangen ist, sondern sich nur verändert hat. Diejenigen, die die Veränderungen mitgetragen haben, konnten in der neuen Welt ihren Platz finden und mitgestalten. Die anderen wurden abgehängt bzw. hängten sich selbst ab. Die Avantgarde wurde Mainstream, der Mainstream wurde zu zahnlosen Reaktionären. Die neue Avantgarde waren die, die sich an die hierarchielose Vernetzung von Informationen und Menschen machten. Die Politiker entwickelten Techniken der Kommunikation, die zu den gültigen Paradigmen passte. Alles war eine Weile gut. Bis es wieder von vorne losging, weil die Avantgarde ihre Ideen von Offenheit und Transparenz, freiem Fluss von Informationen, von Almenden und Agora, Vernetzung und spontaner, direkten Kommunikation, von basisdemokratischen Idealen und der Befreiung des Bürgers aus der Konsumentenrolle mit dem Internet als Katalysator ernsthaft in Angriff nehmen konnte. Natürlich war daran nicht so viel bewusst, wie es im Rückblick erscheint. aber es gab ein Bedürfnis und eben auch ein neues Medium, das es tragen konnte.
Es gibt zum momentanen Paradigmenwechsel einige Parallelen: Die Killerspieldebatte hat die Diskussion um "Tutti Frutti" ersetzt, die Argumente sind aber dieselben. Das neue Internet hat die Stelle der inzwischen etablierten Privatsender ersetzt, die Argumente sind auch hier zum großen Teil dieselben (Hint: Paradigmenwechsel werden immer über "Jugendschutz" behindert, denn den "mündigen Bürger" möchte man ja nicht unterstellen, manipulierbar zu sein. Aber man muss ja die Jugend vor "Verführungen" schützen).
Die Bundespräsidentenwahl ist eine Gelegenheit, den Stand des vorliegenden Wechsels abzufragen. Der Staat, das herrschende politische System, die herrschende Klasse, kann und wird heute klarstellen (und fühlt sich dazu auch regelrecht gezwungen), dass nicht das inzwischen gut hörbare Volk bestimmt, wer hier im Land Bundespräsident wird. Ich bin auch gar nicht dagegen, dass ihnen das gelingt, denn es wird einigen die Sicherheit vermitteln, dass das System noch funktioniert. Tut es auch und es ist auch wichtig, denn das kommende funktioniert noch nicht alleine. Es wird auch nicht mit Gewalt schneller gehen - wozu Radikalität führt haben wir in der Zeit erlebt, in der es in Deutschland tatsächlich noch Terroristen gab.
Aber: Weder ACTA noch ein Jugendmedienschutz-Staatsvertrag wird verhindern, dass sich die Welt verändert. Es werden am Ende wieder all diejenigen weiterkommen, die Teil der neuen Realitäten werden, das Netz und die Ideen, die darüber vermittelt werden nicht nur irgendwie dulden, sondern in ihre Normalität integrieren. Besonders scharf wird die Selektion wahrscheinlich Journalisten, Politiker und Firmenvorstände betreffen. Die Konservativen unter ihnen können zwar noch einige Jahre versuchen, es zu regulieren und an die alte Welt anzupassen, aber es wird auf lange Frist nicht funktionieren. Das Netz wird Mainstream werden. Transparenz wird Mainstream werden. Die alten Kommunikationsmethoden - die jetzt schon beginnen, nicht mehr zu funktionieren und anachronistisch wirken - werden durch neue ersetzt. Alte Probleme werden verschwinden, neue (wie z.B. Datenschutz) werden neue Konflikte hervorrufen.
Das kommende Mainstreamnetz wird allerdings dann auch endgültig nicht mehr Avantgarde sein. Es wird nicht mehr der Platz sein, von dem aus Rebellionen starten, so wie es im Moment und sicher auch noch die nächsten fünf bis zehn Jahre passiert. Das Netz wird den Weg der Privatsender gehen, die - wie die ersten Provider vielleicht - damals in Hinterhöfen starteten, durch Pfiffigkeit, Solidarität und Improvisationsgeschick glänzten bis sich einige durchgesetzt hatten und nun sind was sie heute sind und tun, was sie heute eben tun. Bis dahin ist aber noch etwas Zeit und es wird dann auch eine neue Avantgarde geben, die wieder weiter denkt und dann die Wege finden wird, ihre Ideen in einem neuen Paradigmenwechsel einzubringen.
Die Politiker werden - am heutigen Stand der Dinge - selbstverständlich Wulff zum Bundespräsidenten machen. Sie werden auch noch einige weitere seltsame Gesetze erlassen, mit denen sie ihr Paradigmensystem zu erhalten versuchen werden. Es ist aber kein Wettrennen gegen die Dynamik des Netzes sondern gegen einen unschlagbaren Gegner: Die Zukunft. Es ist ja augenfällig, dass unsere Politiker seit einigen Jahren schon keine Visionen mehr formulieren sondern nur noch den Status Quo verwalten. Das liegt aber nicht daran, dass sie das wollen, sondern dass sie in den Strukturen, in denen sie sich befinden nichts anderes mehr können. Sie sind zu Technokraten geworden. So wie die Generation, die einmal von ihnen ersetzt wurde.
Sollte Gauck übrigens doch gewinnen, dann sind wir tatsächlich schon eine gute Ecke weiter, als ich momentan denke. Ändert allerdings nichts an meiner oben dargestellten Sicht der Dinge.
(An potenzielle Kommentatoren: Ich weiss schon, dass ich hier manche Dinge sehr vereinfacht dargestellt habe.)