Es gibt Verhalten, das nicht akzeptabel ist. Nehmen wir an, jemand kackt in der Öffentlichkeit ständig auf die Straße und erklärt, dass das sein gutes Recht sei und man ihn deswegen nicht gesellschaftlich ächten könne. Da würde niemand sagen, dass er damit recht hat und endlich tuts mal einer, dass man ihn deswegen echt nicht verurteilen könne oder gar, dass das zu kritisieren und ihn davon abzuhalten eine Provokation sei, die ihn erst recht dazu bringt, weiter auf die Straße zu kacken.
Das Problem ist, dass wenn man Leute, die permanent auf die Straße kacken - oder eben ständig ihren Rassismus zur Schau stellen - toleriert oder gar Verständnis dafür signalisiert, man ihre Taten und Äußerungen aus dem Bereich des gesellschaftlich geächteten Verhaltens in den des akzeptierten verschiebt und das darf nicht passieren.
So muss man auch die Sprachformel betrachten, dass man verdammt noch mal kein Verständnis für Rassisten zu haben hat: Ich kann Verständnis haben für eine schwierige persönliche Situation. Für Fehler in der Erziehung die ein Mensch ausbadet. Für Bildungsdefizite die ihm in unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft Zugang zu gesellschaftlicher Anerkennung verwehren. Für frustrierende Perspektivlosigkeit und Verzweiflung über seine nicht zu überwindende Existenzängste.
Aber auf die Straße kacken oder Rassismus bleibt davon unberührt und ich werde daher mit niemandem über irgendein anderes seiner Probleme reden, so lange er auf die Straße kackt oder sich rassistisch äußert, denn dass er damit aufhört ist die Voraussetzung dafür, dass ich in eine Interaktion mit ihm eintreten kann.
Dass plötzlich "uns" hier eine Art Holschuld zugeschrieben wird, diesen Leute irgendwie mit einer zugewandten Akzeptanz zu begegnen - also Leuten, deren Verhalten eben jenseits der Akzeptanzschwelle steht genau dieses Verhalten durchgehen zu lassen und mich erst mal um seine anderen Probleme zu kümmern - ist ein (ziemlich unsubtiler) rethorischer Taschenspielertrick, den jede*r kennt, die/der Menschen mit Suchtproblemen in der Familie hat. Alkoholikern kann man auch nicht helfen, indem man erst mal alle ihre anderen Probleme löst. Das ist kontraproduktiv, denn das signalisiert ihnen lediglich, dass sie weiter machen können wie bisher.
Was wir aber bei Rassisten und Neonazis tun ist das Gegenteil dessen, was ihnen helfen würde, wieder ein gutes und eigenständiges Leben führen zu können, denn wir laden sie sogar regelmäßig in Fernsehstudios ein und bringen ihnen bei, dass sie mit ihrem Verhalten in dem Bereich angekommen ist, in dem sich Briefmarken sammeln oder keine Fleischprodukte essen befindet: Manche machen das und wems Spaß macht, meine Güte. Aber erzähl doch noch ein bisschen von Deiner Wut. Klopapier?
Allein schon, dass sie nun auch in der Talkshow vor Millionen Zuschauern auf den Boden kacken oder ihre rassistischen Thesen erklären können ist der Sieg. Keine noch so gut geführte Diskussion wird das ändern. Der Rassist hat gewonnen, wenn man ihm zuhört. Dass man ihm vielleicht auch widerspricht, spielt für ihn keine Rolle. Er ist da angekommen wo er hin wollte: In die Mitte der Gesellschaft, ohne seinen Rassismus ablegen (oder zumindest verschämt verstecken) zu müssen.
Und deswegen ärgere ich mich darüber, dass man einem Sarrazin zuhört, dass der Spiegel morgen hunderttausende kostenlose AfD-Wahlplakate in den Zeitschriftenläden auslegt und dass ein Innenminister, ein Ministerpräsident und ein Verfassungsschutzchef rechtsradikalen Mobs mit semantischen Haarspaltereien zeigt dass sie einfach weiter machen können was sie wollen.
Wenn man mal vergleicht, wie es vor 10 Jahren auf der Straße aussah: Da konnte man noch gemütlich spazieren gehen. Heute tritt man alle paar Meter in den nächsten Kackhaufen. Das ist, was man davon hat, wenn man Leuten, die auf die Straße kacken nicht sagt: Hör auf damit oder verpiss dich!
Ich hab auf Twitter und Facebook einiges zur m.E. missglückten Implementierung der seit einigen Tagen "scharf" geschaltenen DSGVO geschrieben. Weil das dort in einer Weile aus den Timelines verschwindet, dokumentiere ich die Texte, die mir wichtig sind hier. Das bedeutet, dass das jetzt kein zusammenhängender Artikel wird, sondern mehrere Happen, die sich auf ein paar bestimmte Aspekte konzentrieren. Grundsätzlich bin ich kein Gegner von Datenschutz und nicht mal gegen die DSGVO und das BDSG. Meine Kritik richtet sich gegen die schlampige Implementierung, die ohne Not zu einer massiv unklaren Rechtslage für Einzelpersonen, Vereine und Initiativen führt und das Versäumnis, bestimmte Techniken und Methoden der Datensammlung für den Zweck der Erstellung von kommerziell genutzten Nutzerprofilen wirklich zu verbieten.
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Mir ist die #DSGVO inhaltlich tatsächlich ziemlich schnuppe. Aber ich sehe, was die Implementierung verursacht: jede Menge Blogs sind abgeschaltet, Vereine und Initiativen löschen ihre Seiten und werden damit unsichtbar. Der Schaden ist da. Wo ist der Nutzen? Dabei ist es mir völlig egal, ob ein kleiner Blogger ein paar persönliche Daten von mir speichert. Was soll der damit machen? Datenschutz finde ich trotzdem wichtig: aber da reden wir über die Daten, die der Staat über mich sammelt. Der tritt mir nämlich im Zweifel die Tür ein. Und genau an dieser Stelle passiert gar nichts. Im Gegenteil. Behörden nehmen sich immer mehr Rechte, Daten von mir und über mich zu erheben und zu speichern.
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Der Irrtum mit der #dsgvo ist ja, dass es darin darum gehen würde, Datenmissbrauch zu verhindern. Hätte man das tun wollen, hätte man ja nur Nutzungsarten, die man als missbräuchlich ansieht, verbieten müssen. So kann man das alles auch weiterhin, wenn man 5000 Worte Datenschutzerklärung im Keller aufhängt. Mehr noch: Dadurch dass man sich das vom Nutzer absegnen lässt, hat der hinterher sogar noch weniger Möglichkeiten, seine Datensouveränität wiederzuerlangen und natürlich werden die Betreiber sich wegen der Zustimmungspflicht direkt mal mehr Rechte beim Nutzer einholen als sie vorher hatten - schlicht aus dem Gedanken "Wenn ich eh fragen muss, kann ich ja auch gleich x und y dazu nehmen".
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Die Juristen, die grade so milde lächelnd in Kolumnen und Interviews den Kopf über Menschen schütteln, die aus Angst vor der DSVGO Salz über die Schulter werfen (sprich: aktionistischen Quatsch machen) verstehen nicht, dass das Problem nicht die DSVGO ist sondern Juristen.
Menschen sind schon immer so. Was sie nicht verstehen, wird von uns in magische Handlungen übersetzt. Man ahmt halt das nach, was die "Weisen" tun: So entstehen "juristisch" klingende Distanzierungszauberformeln von Link-URLs, rituelle Gruppenadmin-Posts um sich ein wertloses OK der Gruppenmitglieder einzuholen und das erklärt natürlich auch diese AGB-Widerspruch-Votivbildchen, die einfach nicht totzukriegen sind (Es erklärt auch Pseudonachrichten und btw auch einen US-Präsidenten der seinen Job spielt wie eine TV-Show weil er in Wirklichkeit gar nicht weiß was er zu tun hat, aber ich will meinen eigenen Post nicht derailen).
Die Frage ist: Wer ist denn Schuld daran, dass wenn sich Menschen
1. an eine Verordnung halten sollen die sie schon juristisch gar nicht verstehen und das
2. in einer technischen Umgebung, die sie nicht in der Tiefe beherrschen um abzuschätzen, ob sie etwas falsch machen und dann
3. die "Spezialisten" - also die Techies und die Juristen - ihnen mit ihrer typischen Arroganz erklären, dass sie halt dann nichts in dieser Umgebung zu suchen haben und selbst Schuld sind wenn sie kein Jura- und Informatikstudium absolviert haben bevor sie was ins Internet schreiben,
sie dann aus lauter Verzweiflung halt Magie betreiben in der Hoffnung dass das mit dem Salz schon irgendwas bewirkt, wenn mans über die Schulter wirft, weil "Schaden kanns ja auch nicht"?
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Ich mag Prantl und bin sehr viel häufiger seiner Meinung als nicht. Ich kann aber selbst dann meistens nachvollziehen, warum er etwas schreibt, wo ich anderer Meinung bin. Auch hier verstehe ich sein gute Absicht, dem Narrativ über aluhuttragende Datenschützer, die mit hysterischer Regulierungswut das Internet kaputt machen ein anderes entgegenzusetzen.
Aber er schummelt dabei, denn die neue Verordnung ist leider so schlampig implementiert worden, dass sie - zumindest im Moment - das Gegenteil von dem bewirkt was sie tun sollte: Es sind halt leider nicht die Dickfische wie Facebook und Google, die jetzt an die Leine genommen werden. Dazu hätte man Privatsphäre verletzende Techniken verbieten müssen, was nicht passiert ist. Man hat lediglich organisatorischen Aufwand verursacht. Den und die Anwälte, die da durchblicken, können sich Facebook und Google leisten, aber leider nicht die Feuerwehr Pusemuckel und Frau Müllers Strickblog. Und die sind es, die jetzt dicht machen, aus größtenteils zwar unbegründeter Angst da sie eigentlich gar nicht betroffen sind, aber wenn ein Gesetz von Datenschützern mit großem Jubel damit beworben wird, dass jetzt aber ratzfatz 20 Millionen Schadenersatz fällig sind, wenn man vergisst anzugeben, dass man ein Antispam-Plugin in seinem Wordpress hat, ist der Laie lieber raus und was bleibt dann übrig? Nur noch genau die Plattformen, Dienste, Medienseiten und Shops, die sich die Tracking und Profiling-Erlaubnis beim Nutzer abholen und dann ist es egal ob es ein oder 50 Scripte sind, die nachgeladen werden.
Das zweite Problem, das ich mit dem Text habe ist, dass die DSGVO im Gegensatz zu dem was er schreibt keiner einzigen Behörde die Datensammlung und -nutzung erschwert. Im Gegenteil, die berufen sich auf andere Gesetze (zB das POG) und können mit Hinweis auf "berechtigtes Interesse" die DSGVO sogar für die Begründung hinzuziehen, kein Optout zuzulassen.
Ja, kein Mythos: Jede Menge Blogs, Vereine, Initiativen, Foren, Privatseiten schließen. Einen kleinen Eindruck, wie schlimm es wirklich ist bekommt man hier.
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Leute, die ihre Blogs abschalten so: "Ich mach dann halt jetzt alles auf Facebook". Klappt super, das mit dem Datenschutz.
Ich möchte über etwas schreiben, was mir bei der momentanen Reprise der Cambridge Analytica Geschichte auffällt. Denn, schon wieder oder immer noch ist der seltsame Glaube an das eine magische Wort, das im richtigen Moment ausgesprochen den Helden rettet (oder den Schurken zum Superschurken macht) und den entscheidenden Vorteil bringt, eine der Kernelemente der Story um eine Firma, die mit massiven Beweisen und Verdachtsmomenten konfrontiert ist, dass sie mit Datendiebstahl, Betrug, Erpressung und agressivsten Manipulationsmethoden weit außerhalb des auch nur ansatzweise moralisch Vertretbaren agierte.
Das Bild, das sich gerade abzeichnet ist: Cambridge Analytica behauptet, sie würde durch extrem schlaue Datenanalysen mikroskopisch exakte, auf einen psychologischen Angriffspunkt der EmpfängerInnen abgestimmte Werbeposts schalten und sie damit praktisch hirnwaschen und zum gewünschten Wahlverhalten zwingen. In Wirklichkeit arbeitet sie aber als skrupellose grey und black hat Lobbyagentur, holzen sich mit Betrug, Bestechung und Erpressung durch die Politik- und Medienlandschaft, um den Anschein zu stützen, ihre teure und einzigartige Methode sei so erfolgreich wie sie versprechen. Eigentlich bestätigen die Enthüllungen das ganz prima und passt dazu - wenn man im vorletzten Jahr etwas aufgepasst hat - wie krasse, unverhohlene Desinformation den Wahlkampf in den USA bestimmte. Und dazu, dass eben nicht Subtiliät den Erfolg populistischer Kampagnen ausmacht sondern das Gegenteil davon. Wie das eben letztes Jahr dazu schon erarbeitet wurde, nachdem die ersten hyperventilierenden Sensationsartikel durch waren.
Selbstverständlich wurde auch da schon erklärt, dass wir nichtsdestotrotz einige reale massive Probleme haben, deren Aufklärung und Aufarbeitung dringend notwendig sind: Probleme mit Plattformen wie Facebook, mit der Art, wie sie mit Daten arbeiten, mit den Wegen der Einflussnahme und Manipulation, mit dem digitalen Kontrollverlust und vielem anderen. Aber man erklärt mir schon wieder, wenn ich sage, dass Cambridge Analytica Hustenbonbons gegen Krebs verkaufen, dass es doch sein könnte, dass das ja durchaus auch ein magisches Hustenbonbon sein könnte, das vielleicht genau diesen einen wichtigen Ausschlag gegeben haben könnte, der Trump die Wahl gewinnen ließ.
Ein Problem, das meiner Ansicht nach immer wieder verhindert, dass sich um diese Probleme nachhaltig gekümmert werden kann - und das sich gerade wieder exemplarisch zeigt - ist der Verlust von Kontext, bzw das Weglassen davon, wenn über komplexe Sachverhalte berichtet oder diskutiert wird. Das kommt zB auch daher, dass der Onlinejournalismus Informationen schnell, prägnant und verdaulich aufbereiten muss (und dadurch der Weg vom Lesen zum klicken und teilen möglichst nur Sekunden dauert), aber dass es leider Themen gibt, die gar nicht derart kurz und prägnant auf eine griffige Überschrift eingedampft werden können, dass die dieser Anforderung genügen, ohne dass sie durch ihre Emotionalisierung, ihre Vereinfachung, ihre Zuspitzung und durch das Weglassen von Kontexten am Ende plötzlich "falsch" sind. Jede Meldung ist eine Einzelnachricht, ein neuer Aspekt eines alten Themas wird nicht in Beziehung gebracht sondern immer wieder als neue Nachricht verkauft, bis hin zu Absurditäten wie Trumps Tweets, über die sich seit über 12 Monaten quasi täglich einzeln und immer wieder empört wird, als ob er just heute völlig überraschend was völlig dummes geschrieben hat. Das wirkt auf Dauer wie mediales Blitzdingsen am Murmeltiertag und sorgt dafür, dass immer gleiche Stories immer wieder von vorne beginnen.
Ein anderer Grund ist die Art und Weise, wie wir selbst ganz persönlich in Sozialen Medien bei Diskussionen sofort nur noch auf Überschriften oder einen (Halb)satz eines Kommentators antworten und als vollständige These betrachten, weil eine differenziertere Betrachtung zb für einen flüchtigen Facebookkommentar viel zu aufwändig ist. Dass wir dadurch immer nur das zuletzt gesagte beachten ist aber langfristig ein Problem. Ich merke das ja selbst (und letztes Jahr war das ganz genauso), wenn ich schon wieder versuche, zu erklären, dass Cambridge Analyticas Behauptung, mit Daten Verhalten zu verändern zuallererst mal ein Scamsystem ist und gerade die aktuellen Enthüllungen das sogar bestätigen. Das bedeutet aber eben nicht dass alles, was diese Firma tut, harmlos ist, dass sie nicht gefährliche, höchstwahrscheinlich jede Menge illegale Praktiken anwendet um die Erfolge zu erreichen, die sie brauchen, um ihren Scam "echt" aussehen zu lassen. Oder dass Facebook aus dem Schneider sei und deren Datensammeleien und Umgang damit schon ok gehen. Das ist aber das, was mir als meine Behauptung oft unterstellt wird, jetzt und auch schon letztes Jahr.
Die Vereinfachung der Welt in reine entweder/oder, schwarz/weiß, links/rechts, gut/böse Gegensätze zum einen plus dieser Kontextlosigkeit, in der Dinge, die aufeinander Aufbauen, miteinander zusammenhängen oder sich über einen längeren Zeitraum verändert und entwickelt haben ignoriert werden ist eine enorm frustrierende Situation. Ich hab da jetzt auch keine These oder einen Vorschlag oder ein magisches Hustenbonbon, das das schnell lösen würde, aber genau darum gehts halt auch. Das magische Hustenbonbon gibt es nicht. Wir müssen hier den langen Weg gehen und all die Kontexte betrachten, die Veränderungen und Entwicklungen nun mal antreiben...
Es gibt viele Aspekte, die auf den momentanen Erfolg von Populisten und Rechtsextremen einzahlen. Ich will auf einen eingehen, den ich für besonders relevant halte. Was weder heißt, dass das der wichtigste oder der einzige ist, noch dass ich mir über andere keine Gedanken mache. Das vorab als Disclaimer, damit niemand kommentieren muss, dass ich ja das ihnen wichtige, "eigentliche" Thema ignorieren würde (was wahrscheinlich dennoch passiert, aber egal).
Warum wir Fremde fürchten
Es gibt wahrscheinlich, seit der Mensch eine gewisse Selbstwahrnehmung und Intelligenz entwickelt hat, eine wichtige Instanz im Bewusstsein, die ihm hilft, mit der Realität klarzukommen und sein Dasein zu ordnen. Das ist die Wahrnehmung von Veränderung und die Angst vor dem Fremden. Wahrzunehmen, wenn sich etwas in der direkten Umwelt eines Menschen verändert oder wenn sie andere Menschen bemerken, die sie in ihrer gewohnten Umgebung noch nie gesehen haben, ist ein wichtiger Instinkt, denn darauf zu reagieren kann lebenswichtig sein. Daher reagieren wir auch heute mit Stress auf Neues und Fremdes. Stress erhöht die Leistungsfähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit und setzt den Fokus auf alles, was uns hilft, eventuell notwendige Abwehr- oder Fluchtmaßnahmen einzuleiten und erfolgreich eine Krisensituation zu bewältigen, falls sich diese Veränderung oder die fremde Person als Bedrohung herausstellt.
Leider ist eine der negativen Folgen dieses Instinktes der Verlust der Gesamtübersicht, denn er fokussiert uns auf den Moment und blendet alles aus, was gerade nicht wichtig scheint, um eine akute mögliche Bedrohungslage in einem größeren Maßstab oder mit einem rationalen Abstand zu bewerten. Bei Gefahr ist es wichtig, möglichst schnell und direkt zu reagieren und wenn es um Sekunden geht, ist der rationale Teil unseres Hirns dem emotionalen weit unterlegen: Der Sinn von Affekt ist es, schneller zu reagieren als man denken kann und um eine plötzliche Gefahrensituation durch Angriff oder Flucht zu beenden kann das schnelle Handeln aus dem Bauch heraus statt das überlegte Handeln aus dem Kopf heraus entscheidend sein. Wenn wir diesen wichtigen Instinkt nicht hätten, würden wir wahrscheinlich jeden Tag von einem Bus überfahren werden.
Das Fremde in der Dauerschleife
Bleiben wir mal beim Bus: Ich sitze im zweiten Stock und auf der Straße unter meinem Fenster fährt alle 10 Minuten ein KVB-Bus vorbei. Wenn das Fenster offen ist, hört man den auch, und zwar sehr laut. Wenn ich Besuch habe, fragt der mich nach einer Weile, ob mich das nicht stört und ich sage "Wie? Bus? Ich hör das gar nicht". Das liegt nicht daran, dass ich schlechte Ohren habe, sondern daran, dass ich weiß, was da vorbeifährt. Ich habe offenbar gelernt, dass er keine Gefahr ist, da er mich nicht im Wohnzimmer einer Wohnung im zweiten Stock überfahren wird. Mein Hirn blendet ihn aus. So sehr, dass ich nicht mal mehr das laute Geräusch wahrnehme, das er ja unverändert macht. Mein Besuch ist aber in einer fremden Umgebung und sein Hirn meldet ihm daher jedes Geräusch mit der Frage "was ist das? Muss ich darauf reagieren? Ist das gefährlich?"
Wofür dieses Beispiel steht ist: Wir leben in einer Zeit, in der sich die Menge der Geräusche - und ich meine nicht nur akustische - in unserer Umgebung viel schneller erhöht und potenziert hat, als wir uns daran als Gesellschaft gewöhnen konnten. Klar, einzelnen Menschen gelingt das problemlos, einigen ganz gut (zu denen zähle ich mich), einige bemühen sich redlich und erkennen und benennen ihre Überforderung, dann kommen noch ein paar mehr Abstufungen und dann gibt es irgendwann die, die nicht mehr verstehen, was da eigentlich passiert. Das sind die, die im Dauerstress landen und von ihm getrieben in einem ständigen Zustand der Panik, der Angst und der Bedrohung leben.
Stress ist wichtig und hilfreich in ganz konkreten kritischen Situationen, die eine ganz konkrete direkte Reaktion benötigen. Wenn ich aber den Eindruck vermittelt bekomme, ständig von neuen Gefahren umgeben zu sein und die Informationskanäle über die ich darüber informiert werde nutzen dazu noch eine Form, die so tut als wären diese Gefahren alle so dringlich und konkret wie ein Bus, der gerade auf mich zu kommt, und wenn, sobald ich mich dann diesen Gefahren zuwende um sie zu bekämpfen oder aus ihnen zu fliehen, irgendwie gar keine Möglichkeit dazu besteht, dann hab ich irgendwann ein Problem. Nicht mit den Gefahren selbst, weil die natürlich gar nicht so konkret und direkt sind wie sie uns verkauft und vermittelt werden. Nein, dann gerate ich in einen Dauerstress und ein permanentes Gefühl der Panik, der Angst oder der Wut - je nachdem, wie ich da disponiert bin.
Und genau diese Panik, Angst und Wut erkenne ich bei den Menschen, die uns das Fernsehen zeigt, wenn sie sich darüber wundern, dass Menschen selbst dann, wenn Journalisten und Politiker auf sie zugehen um mit ihnen zu reden, diese nur noch anpöbeln, beschimpfen und vielleicht sogar tätlich gegen sie werden.
Opfer der Populisten
Menschen haben ja berechtigte Sorgen: Haben sie morgen noch Arbeit? Reicht die Rente? Wird alles teurer? Warum verändert sich alles so schnell, dass sie nicht mehr mitkommen? Bekommt irgendjemand was geschenkt, während sie sich für alles anstrengen müssen (ja, wichtige Frage für manche)? Und dann kommt jemand und bietet mir Erklärungen: Die Medien belügen Dich! Die Ausländer nehmen Dir Arbeitsplätze und Frauen weg! Die Politiker nehmen Dir Dein Geld und Deine Rente weg! Und das im Affekt-Abwehmodus befindliche Hirn sagt: Da ist endlich ein konkreter Feind! Auf ihn mit Gebrüll!
Natürlich ist die Wahrheit anders: Die Vergangenheit war nie stabiler und sicherer als die Gegenwart. Es sind aber Dinge unsicherer geworden die mal sicherer waren. Es sind dem gegenüber auch genauso Dinge sicherer geworden, die früher unsicherer waren. Es haben sich immer Dinge geändert, es gab immer Fremde. Es gab auch immer Gefahren. Aber wir bekommen inzwischen viel früher davon erzählt, bekommen sofort Livebilder geliefert, hören alle Spekulationen von jedem, der eine äußert und können uns selbst mit beteiligen und helfen, die Panik der Unsicherheit zu erhöhen. Darüber wie das funktioniert und wie wir damit umgehen können hab ich schon mal ausführlich geschrieben.
Die Wähler der AfD sind schon weit über der Grenze dessen, was mit ein bisschen Vernunft, Ruhe und Reflexion behebbar ist. Die Welt in der sie leben ist eine, in der ihre Kultur, ihr Leben, ihre Perspektiven von allen Seiten unter Dauerbeschuss stehen. Je abstrakter und weiter weg, desto mehr sogar: Man weiß ja, dass ausgerechnet dort, wo die wenigsten Ausländer leben, die Angst vor Ausländern am größten ist. Sie sind im Kampfmodus, mit allen Konsequenzen, auch der, dass jedes Entgegenkommen als Angriff empfunden wird. Wenn alle außer denen, die ihre Weltsicht teilen, Feinde sind, kann man mit denen ja nicht reden. Sie sind umzingelt von Fremden. Ihre Heimat verwandelt sich in die Fremde. Wenn sie sagen, sie fühlen sich "fremd im eigenen Land" ist das keine Metapher. Sie sagen die Wahrheit - aber eben die gefühlte, und die ist echter und tiefsitzender als jede objektive Wahrheit - und sobald man versucht, ihnen zu erklären, dass das ja nicht stimmt, hat man schon verloren. Denn es ist die Welt in der sie leben, die sie wahrnehmen und die sie spüren. Wahrer kann sie gar nicht mehr werden. Ich kann einem Ertrinkenden nicht sagen, dass da kein Wasser ist, wenn das Wasser, in dem er gerade ertrinkt, für ihn so echt ist wie es nur sein kann.
Und das ist das Dilemma: Die einzige Lösung, die es für diese Menschen gibt, ist, das Wasser abzulassen. Also Ausländer raus, Politiker an die Wand, Journalisten berichten nur noch was sie hören wollen. Das kann man ja nicht machen, weil die Welt so nicht funktioniert. Aber die Forderungen haben eine übersetzbare Bedeutung: Ich will keine fremden Menschen um mich herum, die alles anders machen als ich. Ich will keine Regierung, die immer nur Kompromisse von mir verlangt und mir die nicht erklärt, sondern einfach mit einem "Basta" als "alternativlos" durchsetzt. Und ich will nicht ständig immer mehr Dinge lesen und hören, die mich verusichern und ängstigen.
Wo sind die besseren Lösungsansätze?
Und da sind wahrscheinlich die Ansatzpunkte, wenn man einen Teil der Gesellschaft in einer leider auch noch sehr ansteckenden Dauerpanik verliert. Einen Teil, der nach Auswegen aus dem Stress sucht, den all das Fremde um ihn herum erzeugt und deren Drang nach einem Ventil und einer schnellen Linderung ihrer Ängste zusätzlich von Leuten ausgenutzt wird, die ihm alle anderen Teile der Gesellschaft als Feindbilder für ihre Aggressionen anbieten sie dadurch gegen jeden Versuch des Entgegenkommens immunisieren.
Das schafft man nicht mit sachlichen Informationen. Die müssen natürlich da sein. Aber zunächst muss ja überhaupt wieder die Bereitschaft das sein, sich die anzusehen. Die herkömmlichen Formen der Kommunikation sind aber wirklungslos - die Menschen wissen, wie Politiker heutzutage reden. Sie wissen, wie Journalisten heutzutage reden. Sie wissen, wie Werbung funktioniert. Sie erkennen Phrasen. Sie wissen genau, dass man ihnen nicht geben will, was sie verlangen. Sie wissen nur nicht, dass der Schlüssel, um ihr Problem besser und nachhaltiger zu lösen als ihre Wut, ihr Hass, ihre Angst es ihnen vorgaukelt, nicht in der Welt um sie herum liegt, sondern in ihnen selbst. Dass es ihr Umgang mit Veränderung und mit dem Fremden ist, der "falsch" ist. Denn Veränderung und das Fremde ist nichts, was man bekämpfen kann. Es sind Prinzipien und die gehen nicht weg. Mit denen muss man lernen, umzugehen. Man muss sie kennenlernen, auf sie zugehen, sich für sie interessieren. Erst dann kann man die Gefahr einschätzen, die von ihnen ausgeht. Oder erkennt eben, dass es da gar keine konkrete Gefahr gibt. Dass sie der größte Teil der Veränderungen auf der Welt gar nicht betrifft und wenn sie wollen, können sie die ignorieren wie den Bus, der vor dem Haus vorbeifährt.
Das bekommt man nur mit neuen Formen hin. Neue Formen der Bildung, neue Formen der Erzählung. Mit ehrlicherer Kommunikation. Und dann auch mit klaren Ansagen und Grenzen des Tolerierbaren. Das ist, worüber ich gerne reden will und wo ich gerne helfen will, denn mit den neuen Erzählformen kenne ich mich aus: Bloggen war so eine. Social Media transportiert einige. Und vor allem LARP ist so eine - sie verbindet sogar Erzählung und Bildung, indem sie Erfahrungen ermöglicht, die auf emotionaler Ebene die Türen für ein viel breiteres Verständnis und tiefere Erkenntnisse öffnet, Vorurteile auflöst und Empathie erzeugt. Das ist eine Stelle, an der man konkret etwas tun kann und ich habe daher vor, mich da wesentlich mehr einzubringen.
führt in den letzten Tagen zu seltsamen Diskussionen. Ok, vor jeder Wahl beginnen spätestens zu dem Zeitpunkt, ab dem es dem ein oder anderen schwant, dass "seine" Partei womöglich mal richtig abkacken wird, die Emotionen hochzukochen und auf der hysterischen Suche nach doch noch einer Wählergruppe, die vielleicht dieses unausweichliche Ergebnis drehen könnte, überwältigt sie die Wut der Verzweiflung und sie können nicht anders, als sie laut (und dabei auch noch sehr dumm) zu beschimpfen.
Das dürfte normal sein, das beobachte ich seit ich wählen kann und anfangs tat ich das durchaus ebenso.
Aber in den letzten vier Tagen hat das eine absurde Dimension angenommen, und zwar vor allem bei sich politisch links einordnenden Menschen in meinem Bekanntenkreis: Der erklärte Feind, der für den kommenden Sieg der AfD, das Abwandern aller sich links einordnenden Parteien (ja, ich schreib das mit Absicht so) in die Opposition und die drohende Schwarz-Gelbe Mehrheit und natürlich dafür, dass alle Deutschen demnächst zu Nazis werden sind: Die Wähler der Partei DIE PARTEI.
Irre, oder? 0,2% der Wähler sollen Schuld sein, wenn ein von allen etablierten Parteien jahrelang gefütterter politischer Backlash sich in einer Wahl manifestiert. Eigentlich muss man darauf inhaltlich gar nicht eingehen, oder auf die falschen Rechenbeispiele, nach denen eine Stimme für eine Partei, die unter 5% bleiben wird, eine Stimme für die AfD sei. Ein Freund von mir verstieg sich tatsächlich in die Aussage, dass es schlimmer sei, DIE PARTEI zu wählen als gar nicht. All diesen Unsinn habe ich viel zu ausführlich auf Facebook usw diskutiert, wo das alles zum Glück durch die ihm zugestandenen Kurzlebigkeit nicht lange sichtbar ist.
Aber es gibt eine Argumentation, auf die ich doch etwas nachhaltiger eingehen will, nämlich die, die in der Bildzeitung für Linke, der taz aufgemacht wird: Die Wähler der PARTEI sind verantwortungslose, dumme, junge, nur an Spaß interessierte männliche Menschen ohne echte Probleme, der sich auch sonst generell für überhaupt nichts anderes einsetzen, als für die eigene Lustbefriedigung. Diese Leute würden die PARTEI just for the lulz wählen und seien damit gar verachtenswerter als AfD-Wähler. Der taz-autor versteigt sich am Ende sogar in einen Vergleich von Wählern der PARTEI mit Nazi-Mitläufern im dritten Reich.
Sidenote: Ich nannte das in den Diskussionen Wählerbeschimpfung und es gab tatsächlich genügend Mitdiskutanten, die meinten, das wäre doch nicht beleidigend, sondern alles ganz rational.
Die gesamte harsche Verurteilung des PARTEI-Wählers fußt jedenfalls auf einer Behauptung, nämlich der, wer dieser Wähler ist. Ich vermisse da aber die Fakten, die Beweise für all die Annahmen, die da eben mal so über ihn aufgestellt und einfach als gegeben hingestellt werden.
Was wäre denn, wenn es genau die anderen sind, die die Partei wählen? Also die prekär lebenden intelligenten Abgehängten? Immigranten, die in allen Parteien diese Leute ansehen und hören müssen, die sie als Menschen zweiter Klasse und Verhandlungsmasse behandeln? Die Alleinerziehenden, die Menschen die gerade in die Altersarmut rutschen, Hartz4-EmpfängerInnen, KünstlerInnen, Behinderte, junge Frauen die keine Lust mehr haben ständig zu hören, dass sich ihre Zukunftsperspektiven schon irgendwann verbessern obwohl sie sehen wie sie gerade immer schlechter werden? Also die, die unter dem Stillstand am meisten leiden? Die seit vielen Jahren von den "ernsthaften" Parteien ignoriert werden oder sich von ihnen arrogante Sprüche darüber anhören müssen, dass sie halt mal was "leisten" sollen?
Was wenn die PARTEI-Wähler die Menschen sind, für die die großen Parteien nie etwas getan haben, weil ihre Problem keine Presse machen und weil sie den Parteien zu klein und zu unbedeutend sind, um sich ernsthaft um ihre Sorgen zu kümmern?
Wäre das Urteil dann immer noch dasselbe?
Hier wurde erst mal das Urteil ausgesprochen und sich dann nur noch die Vorraussetzung dafür passend zurechtgelegt, statt erst mal zu schauen, wer denn die Wähler sind, über die da gesprochen wird. Aber das ist ja auch nicht neu - man spricht ja immer über die Marginalisierten, nie mit ihnen. Man müsste ja sonst eventuell das vorgefertigte Urteil überdenken, das einem die moralische Überlegenheit sichert und rechtfertigt, warum es trotz seiner "linken" Gesinnung irgendwo insgeheim ganz recht ist, dass es einem selbst besser geht als den anderen.
Abgesehen davon ist so zu tun als ob Partei-Wähler und AfD-Wähler dasselbe sei - oder gar schlimmer - schon irgendwie seltsam, wenn das dieselben Leute tun, die Trumps "there were bad people on both sides" als Verharmlosung von Rassisten verurteilen. Wenn irgendwas Verharmlosung von Rassisten ist, dann doch, ihre erklärten Gegner als schlimmer zu bezeichnen als die Rassisten selbst, oder?
0,2% der Wähler einer Partei, die im Übrigen die einzige ist, die sich klar und lautstark gegen alles positioniert, wofür die AfD steht, sollen für die Krise der linken Parteien verantwortlich sein? Und um dieses haardünne Brett überhaupt hinstellen zu können, muss man auch noch einen Strohmann aus Opas Ressentiment-Kiste gegen Millennials aufbauen, wer diese Wähler sind? Das ist schon arg verzweifeltes wegschauen von den eigenen, riesengroßen Fehlern.
Ich erwähne hier mal nur einen: Es gab in den letzten fünf Jahren eine klare linke Mehrheit im Bundestag.
Wer hat also hier über Jahre aus welchen lächerlichen, egoistischen Gründen nichts getan?
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Kleine Schlußanmerkung, um die (wahrscheinlich dennoch kommenden) Abwehrreflexe und Projektionen zu mildern: Ich selbst weiß noch nicht, welche Partei ich wähle. Ich mag Progressivität (zB in Bildung, Wissenschaft, sozialer Entwicklung), halte das Bedingungslose Grundeinkommen für dringend notwendig und möchte ein Land, in dem Diversität und Pluralismus als positive Eigenschaften und Chance erkannt wird und die Wirtschaft wieder in die Verantwortung für die Gesellschaft genommen wird statt umgekehrt. D.h. es gibt etwa dreieinhalb Parteien, in denen zumindest ein bisschen was davon auftaucht und zwischen denen ich mich am Ende entscheiden werde.
Ich habe mich lange gegen den in letzter Zeit inflatorisch aufkommenden Begriff des "postfaktischen" gewehrt. Ich tue das immer noch, aber ich erkenne an, dass es inzwischen immer öfter diese gefühlte Wahrheiten gibt, gegen die mit Fakten oder differenzierenden Argumenten anzureden oder anzuschreiben unmöglich ist. Und ich erkenne auch an, dass diese gefühlten Wahrheiten schneller entstehen, als verschwinden, weshalb ihre Anzahl steigt und man das Gefühl hat, gegen eine immer stärker ansteigende Strömung anzuschwimmen.
Da ich kein Freund von monokausalen Erklärungen bin, hier nun vorab der Hinweis: Worüber ich hier schreibe ist meines Erachten ein Grund dafür, dass Populisten gerade leichtes Spiel haben. Es gibt noch mehr, an ganz vielen verschiedenen Baustellen. In der Politik, in den Medien, in der Bildung, in der Gesellschaft und bei jedem von uns ganz persönlich. Ich greife nur eine heraus, weil ich heute danach gefragt wurde und mir die Beschäftigung damit half, das Gefühl der Taubheit und Wut zu überwinden, das mich nach dieser Präsidentenwahl in den USA den ganzen Tag im Griff hielt.
Die These ist: Es gibt zwei wichtige Gründe, warum etablierte Medien (bzw eigentlich generell das Establishment) uns nicht mehr erreichen.
Erstens: Wir vertrauen uns gefühlt näheren Quellen und Informationen - also solchen, die uns von Menschen die uns nahe stehen (entweder weil verwandt oder befreundet oder weil sie ideologisch auf derselben Wellenlänge sind) vermittelt werden - mehr als weiter entfernten, sprich nicht persönlich an mich gerichteten Massenmedien.
Zweitens: Wir vertrauen Quellen, die "schneller" sind als andere. Schon allein wegen des Umstandes, dass sie dann "erster" waren und weil alle anderen danach erst gegen diese Position konkurrieren müssen.
Den ersten vertrauen wir, weil da eine persönliche oder ideologische Nähe besteht, die einen Vertrauensbonus mitbringt. Den zweiten, weil sie einfach die ersten und schnellsten sind, die ein Thema benennen und besetzen und wir uns das als etwas positives merken, ganz egal wie faktisch korrekt sie das tun.
Ein Problem, das wir als Konsumenten von Informationen und Meinungen bekommen, taucht dann auf, wenn wir ein Nullsummenspiel bei der Vergabe von Vertrauen machen. Es gibt dann einen Vertrauensverlust gegenüber "etablierten" Medien. Der Fehlschluss ist die Annahme, dass unser Vertrauen eine endliche Ressource mit einer definierten Menge sei. Wenn man dann sein Vertrauen schon in die Freunde/Personen oder an die schnellste Quelle gegeben hat, muss man - in der Nullrechnung - logischerweise etablierten Medien das Vertrauen entziehen.
Das ist das grundsätzliche Problem, das jegliches "Establishment" momentan hat. Und das Folgeproblem ist, dass Informations-Konsumenten die Funktion eines etablierten Mediums als Hilfe zur Normerkennung nicht mehr kennen und nicht mehr nutzen bzw. letztendlich nicht mehr anerkennen. Aber es ist eigentlich wichtig, dass es Medien gibt, über die ich abgleichen kann, wie weit meine Ansicht, meine Meinung oder meine Informationen von der Norm abweicht. Früher hat man die Tagesschau gesehen, um auf einen gemeinsamen Wahrnehmungsstand zu kommen. Natürlich war man dann auch unterschiedlicher Meinung, aber man wußte eben auch, was momentan der etablierte Konsens war (Daran, dass diese Funktion, einen Faktenkonsens zu bieten, so schnell verloren ging, sind unsere Medien aber zum Teil schon ganz ohne Digitalisierung mit schuld, weil sie vor einiger Zeit schon die Grenze zwischen Fact- und Opinionpieces nicht mehr klar trennten).
Das alles ist eigentlich noch nicht schlimm: So lange die Fakten stimmen und solange die Diskussionen differenziert sind und solange die Motive transparent sind, funktioniert die neue, schnellere und persönliche Informationsvermittlung auch, wenn die Medienkompetenz den Fehler des Nullsummenspiels nicht korrigiert.
Das Dumme ist nur, dass die Fakten nicht stimmen, die Diskussion nur schwarz-weiß stattfindet und die Motive alles andere als transparent sind. Womit wir plötzlich bei eine postfaktischen Kommunikation sind - basierend auf falschen oder übertriebenen Fakten, polarisierenden und damit rein emotional geführten Diskussionen ohne Chance auf Kompromisse und hidden Agendas, die die "Information" nur noch als Mittel zu einem anderen Zweck benutzt.
Tabuisierung und Ausgrenzung von gesellschaftlich inakzeptablem Verhalten hat ja funktioniert und das wird deswegen auch heute noch als Reaktion von Politik und Medien eingesetzt. Da gab es aber die neuen Medien mit den oben beschriebenen zwei Mechanismen noch nicht und Demagogen und Populisten haben Wege gefunden, das zu nutzen und dadurch einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Tabu und der Ausgrenzung zu schaffen. Nicht umsonst nutzen sie Begriffe wie "Denkverbote", "Nazikeule" oder beginnen ihre Sätze mit "Das muss man wieder sagen dürfen..." und nennen die Instanzen, die sie auf ihre Übertretung gesellschaftlicher Anstandsgrenzen hinweisen "Gutmenschen" und "Lügenpresse".
Diese Wege sind genau die beiden Mechanismen, die ich oben beschrieben habe: Die persönliche Nähe und die Erstbesetzung von Themen: Die Geschwindigkeit erreichen sie damit, dass die AfD-Leute, sobald irgendwas ängstigendes passiert, sofort mit allem was sie haben einfeuern. Damit sind sie schneller als alle anderen, die sich erst mal absprechen oder recherchieren. Den Vertrauensbonus, den ich erwähnte, holen sie sich damit aber schon mal ab, auch wenn hinterher rauskommt, dass es gar nicht gerechtfertigt war (deswegen ja immer die "Mausrutscher", die hinterher gelöscht oder relativiert werden - das ist bis dahin ja verbreitet.). Auch Trumps getwittere füttert diese Mechanik.
Die persönliche Nähe schaffen sie damit, dass sie die etablierten Medien als Zwischenstation auslassen und sich direkt an die Menschen richten. Sie springen dabei auch immer auf ideologische Teilthemen, die gerade passen und im Gespräch sind, sei es EU-Kritik, Griechenland, Flüchtlinge, Impfskepsis, konservative Werte (Genderwahn, Sexualerziehung, Abtreibung)... das nehmen die nur als Trittbrett, die stehen da in Wirklichkeit gar nicht dahinter, was man ja daran sieht, dass sie sie nie wieder erwähnen, wenn sie aus dem Diskurs verschwunden sind (siehe Griechenland). Das erzeugt einen sofortigen Rapport bei denen, die sie erreichen wollen und sie erodieren damit das Vertrauen in etablierte Medien und Politik, was das eigentliche Ziel ist. Denn das Nullsummenspiel sagt uns ja: Wenn Du denen vertraust, misstraust Du den anderen.
Soweit die Erklärung, warum passiert, was passiert. Nun ist die Frage, wie man diese Mechanismen entschärfen kann. Drei Antworten:
1. Nicht mit den üblichen coolen Strategien, die aus dem Marketing entlehnt werden oder von smarten Business-Consulting-Agenturen kommen. Hier geht es um echte und ernsthafte Kommunikation, um ehrliches Umdenken, um innovatives Anders machen. Da helfen keine Kampagnen, keine lustigen Bildchen, keine intelligenteren Social Media Redakteure. Hier muss man an die Strukturen gehen, mit denen man Informationen und Themen erkennt, darüber recherchiert und sie kommuniziert.
2. Individuell: Wenn man glaubt, es lassen sich für Parteien, Medien, Verlage, Sender, NGOs usw. jeweils Standardlösung finden, wird das nicht klappen. Man muss die hundert Prozent passende für jede einzelne Institution entwickeln. Sie kann nicht am Reißbrett entstehen und dann im Unternehmen "implementiert" werden sondern sie muss gemeinsam mit all denen entwickelt werden, die sie verwenden.
3. Man kann nicht so tun, als ob man was ändern möchte. Man kann es nicht mal testweise versuchen. Man muss es tun, ganz oder gar nicht. So häufig ich für Mittelwege und Kompromisse plädiere, aber hier ist ohne ein gemeinsames, ehrliches, konsequentes, verbindliches Bekenntnis keine Veränderung möglich.
... Aus meiner Warte offenbart es eine tiefe Unkenntnis, nach welchen Mechanismen sich eine öffentliche Meinung bildet, wenn man Kritik an der eigenen Position für Zensur und den Unwillen zur weiteren Zusammenarbeit für ein Berufsverbot hält. In solchen Menschen scheint mir mehr Obrigkeitshörigkeit und Angst vor „dem großen Anderen“ (...) zu walten, als ihnen selbst auch nur ansatzweise klar ist.
Wie überhaupt sehr viel Projektion im Spiel ist. Wir können ja mit Leichtigkeit mehr solche Widersprüche aufmachen:
Ob es die Gewaltfantasien sind, die sie täglich in Sozialen Medien herumposaunen oder die sie tatsächlich als Brandanschläge und Handgreiflichkeiten gegen fremd aussehende Menschen in die Tat umsetzen. Ob es die ständigen Drohungen sind, man "wird sich die Namen merken" für den Fall dass man nach der Revolution (sie befinden sich ja in einem klassischen faschistoiden Endzeitszenario) mal am längeren Hebel säße. Oder ob es der seltsam geschichtsvergessene Wunsch ist, "Zäune und Schießanlagen zu bauen und gut ist", die ihr Leben und ihren Wohlstand irgendwie absichern soll:
Das sind die Lösungen und Ideen der selben Menschen, die sich als zukünftige Opfer der sicher irgendwann mal kommenden "islamistischen" Gewalt und Unterdrückung sehen. Es sind die Ideen derer, die sich als ohnmächtige Spielbälle einer übermächtigen Diktatur einer "Deutschland GmbH" sehen*, die sie mit Chemtrails, Mediendruck und Geheimpolizeien gefügig macht. Es sind die Ideen derer, die ihre Werte - wobei das bei näherem Fragen doch meist materielle Werte sind, also ihr Wohlstand - und ihre Freiheiten gefährdet sehen.
Wenn man sich also mal anschaut, wie diese Menschen sich ihre Welt vorstellen - und zwar einmal die, in der sie sich als diejenigen sehen, die das Sagen haben und einmal die, in der sie sich gerade zu befinden glauben - dann ist das am Ende ganz genau dieselbe Welt. Nur eine andere Machtverteilung.
Insoweit ist die Frage "Was wollen die eigentlich?" auch einfach zu beantworten: Sie wollen weiterhin in ihrer schwarzweißen, gewalttätigen und faschistischen kleinen Welt leben. Nur eben lieber als diejenigen, die sie beherrschen, die andere unterdrücken dürfen und in der sie diejenigen sind, deren Willkür und Skrupellosigkeit folgenlos bleibt. Und nicht als die machtlosen und beherrschten. Es ist eine konsistente Welt.
Eine Welt in der es keine Mitbestimmung von Minderheiten, keine Interessenesausgleiche und keine demokratischen Kompromisse gibt, sondern in der sie allein bestimmen oder untergehen.
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* (obwohl sie die Zusammensetzung der Parlamente und politischen Strukturen ständig wählen können)
** (und daher brauchen wir uns auch nicht wundern, wenn die plötzlich auch bei TTIP-Demos auftauchen)
Auf der re-publica unterhielt ich mich mit jemandem, der für eine Studie Hartz-4 Empfänger interviewte.
Er erzählte, dass jede von ihnen einen guten Grund hatte, auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein: Der eine ist zu alt für seinen Job, die andere ist zu lange krank gewesen, der nächste kann die Gegend nicht verlassen in der es einfach keine Jobs gibt, die nächste hat einen Beruf, der heute nicht mehr benötigt wird. Und so weiter. Er sagte, es kam eigentlich heraus, was zu erwarten war: Auch Hartz-4 Empfänger sind ein ganz normaler Querschnitt der Bevölkerung was Schulbildung, Ausbildung oder Studium, Familienverhältnisse oder sonstige biographische Eigenschaften angeht.
Soweit, so erwartbar.
Was auch erwartbar war, war das Gefühl dieser Menschen, zu Unrecht stigmatisiert zu sein und von Ämtern und Behörden überwacht und gegängelt zu werden.
Was dann aber überraschte war, dass sie zwar alle ihre eigene Situation realistisch beschrieben haben, aber bei der Beurteilung der anderen Interviewkandidatinnen komplett daneben zielten: Ihr Wunsch, nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden galt nämlich absolut nicht für die anderen da draußen im Wartezimmer: Die seien eben genau die Schmarotzer und Faulenzer, wegen denen das Sozialsystem so versagt und die nehmen ihnen, die berechtigt auf Hilfe angewiesen sind, das Geld, die Chancen und den guten Ruf weg.
Jeder Einzelne von ihnen war dieser Meinung.
2.
Cory Doctorow erklärte - ebenfalls auf der re-publica - warum wir den Kampf gegen Überwachung verlieren werden. Ein wichtiger Punkt (von mehreren): Menschen sind misstrauisch. Sie wollen zwar selbst nicht überwacht werden, aber sie sagen im gleichen Atemzug, dass es leider nötig ist, alle anderen zu überwachen.
Wir sind nicht gerade dabei, durch Überwachung die Gesellschaft mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung in eine Gesellschaft mit dem Prinzip des Generalverdachts zu verwandeln. Die Überwachung ist lediglich ein Symptom und das Ergebnis dessen, dass diese Gesellschaft sich schon längst geändert hat.
Die Idee, dass die Überwachung aller Menschen etwas notwendiges sei, hat traurigerweise eine Mehrheit und Solidarität und Vertrauen gilt nicht mehr als Wert sondern als romantische und naive Schwäche!
3.
Eine Kusine von mir postete letztens einen NPD-Spruch in Facebook. Demnach würden für Flüchtlinge Millionen ausgegeben werden, die bei Schulen und Rentnern eingespart würden. Natürlich ist das völliger Unsinn und populistischer Quatsch. Wir könnten problemlos sowohl wesentlich mehr Flüchtlinge aufnehmen, als auch gleichzeitig Schulen sanieren und bessere Bildung ermöglichen und wir könnten Rentnern auch mehr Geld geben.
Aber warum sollte man das tun, wenn man doch anscheinend die, die zu kurz kommen, so wunderbar gegeneinander ausspielen kann? Wenn das sogar dazu führt, dass sie dann die wählen oder denen blindlings folgen, die von dieser Situation profitieren und den Teufel tun, daran auch nur irgendetwas zu ändern?
So lange Menschen glauben, dass sie zu kurz kommen weil Menschen, die ebenfalls zu kurz kommen Schuld daran sind, wird sich da wenig ändern und schlecht gelaunte Menschen neidisch auf andere schlecht gelaunte Menschen schimpfen.
4.
Eins der Argumente, das ich immer höre, wenn es um das Thema "Bedingungsloses Grundeinkommen" geht ist, dass dann ja niemand mehr arbeiten würde und dass es ungerecht sei, wenn andere - im Gegensatz zu einem selbst - nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiteten sondern "alles" geschenkt bekämen.
Natürlich lautet die Antwort auf die erste Gegenfrage "Wie, Du würdest dann nicht mehr arbeiten?" - "Nein, ich würde auf jeden Fall weiter arbeiten. Aber alle anderen nicht und das ist ja dann ungerecht." und es ist ihnen seltsamerweise auch nicht zu erklären, dass ja jeder, also auch sie, dieses Grundeinkommen beziehen würden, zusätzlich zu dem, was sie durch ihre Arbeit verdienen.
Was mir hier jedes mal auffällt ist diese sehr seltsame Sichtweise, nach der man anscheinend einen nicht tolerierbaren Nachteil davon hat, dass andere etwas bekommen, wenn sie nicht dieselbe Vorstellung davon haben, warum sie es "verdienen".
Lieber lehnen sie also sogar Ein BGE für sich selbst ab, als dass das zur Folge hat, dass andere dasselbe bekommen.
5.
Ich könnte noch mehr Beispiele aus verschiedenen weiteren Themenbereichen geben:
- Datenschützer wollen jetzt angeblich auch Menschen töten (Das dürfte die perfideste Idee sein, um Datenschutz zu diskreditieren und natürlich klappt es, wenn man die Kommentare liest, die diese schrecklichen "Datenschützer" gerne am nächsten Baum baumeln sehen würden).
- Oder schauen wir uns die einer Demokratie völlig unwürdige Art und Weise an, wie man heutzutage auf Streiks reagiert, sei es der Bahnstreik oder der Streik der ErzieherInnen: Ich bin entsetzt über den ungezügelten, offenen Hass aus komplett unreflektiertem, purem Egoismus, der noch dazu völlig verantwortungslos von Medien aufgestachelt und von Politikern legitimiert wird.
Auch die Anspruchshaltung dahinter ist bemerkenswert: Wenn der Zug nicht kommt oder das Kind nicht betreut wird sind Menschen sofort bereit, Streikverbote oder Arbeitszwang zu verlangen. Dass das im Zweifel auch für sie gelten könnte ist offenbar keinen Gedanken wert.
- Wir schicken Soldaten los, um Flüchtlingen ihre letzten Hoffnungen zu versenken statt ihnen zu helfen.
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Ich glaube inzwischen ist es nicht mehr schwer, das Muster zu erkennen. Oder? Ich erinnere mich jedenfalls an Leute, die sowas vorhergesagt haben, als Helmut Kohl in den Achtzigern begonnen hat, das Solidaritätsprinzip konsequent zu vernichten (und Schröder den Staffelstab übernommen hat und geradewegs weitergemacht hat).
Wenn wir nicht hier ansetzen sondern glauben, es reicht doch, sich dafür einsetzen, dass unser schönes, gemütliches Internet schön und gemütlich bleibt und der Rest der Menschen um uns herum geht uns nichts an, haben wir kein besseres Internet verdient als das, das wir am Ende bekommen.
Jetzt hab ich doch was für die re-Publica eingereicht. Meine ursprüngliche Idee - mal aufzuzeigen, wie exakt und vollständig Tracking heutzutage schon funktioniert - war leider zu ambitioniert. Das verständlich aufzubereiten hab ich mir am Ende nicht in der notwendigen Detailliertheit zugetraut. Aber mich treibt in letzter Zeit - vor allem durch viele Diskussionen rund um Pegida und Charlie Hebdo - ein anderes Thema um, nämlich die Hysterisierung und Entsachlichung von Argumentationen und dass es Zeit ist, gegen die neue Welle des Überwachungswahns endlich mal Narrative zu entwickeln, die wirklich greifen können.
Kurzthese:
Die Kommunikation in diesen Tagen ist oft geprägt von ungünstigen Kommunikationsprinzipien: Grundsätzliche Polarisierungen und Formulierungen als entweder/oder Entscheidungen blockieren schon im Ansatz eine pluralistische Meinungsvielfalt, verhindern Dialogmöglichkeiten und Konstruktivität. Ich stelle Ansätze vor, Narrative zu entwickeln, die diese Fehler nicht machen: Z.B wie erkläre ich, dass Internetüberwachung jeden Menschen angeht? Wieso ist "und" stärker als "oder"? Wie formulieren wir Ziele, die nicht mit "Gegen" anfangen oder mit "verhindern" aufhören?
Beschreibung:
Die Kommunikation in diesen Tagen ist oft geprägt von ungünstigen Kommunikationsprinzipien: Grundsätzliche Polarisierungen und Formulierungen als entweder/oder Entscheidungen blockieren schon im Ansatz eine pluralistische Meinungsvielfalt, verhindern Dialogmöglichkeiten und Konstruktivität. Natürlich ist da eine Absicht dahinter, denn die Idee ist natürlich, Alternativlosigkeit herzustellen und das geht am einfachsten, wenn es nur eine gute und eine schlechte Möglichkeit gibt, ein Problem zu lösen. Aber es spaltet, denn eine Partei muss dann immer vollständig verlieren.
Ein weiteres Problem für Narrative - speziell wenn es um Überwachung geht - stellt die Fokussierung auf einzelne Medien ("Betrifft nur eine Minderheit. Ich schreibe eh nur 3 E-Mails im Jahr"), technische Details ("Deep Packet Inspection? Kapiert doch eh keiner und ist doch nur Nerdkram.") oder extreme Einzelfälle ("Du willst also Terroristen und Kinderschänder einfach frei rumlaufen lassen?") dar: Das verstellt den Blick aufs Wesentliche: Es geht doch darum, dass wir nicht mehr miteinander reden können, ohne dass jemand zuhört.
Ich stelle Ansätze vor, Narrative zu entwickeln, die diese Fehler nicht machen: Z.B wie erkläre ich, dass Internetüberwachung jeden Menschen angeht? Wieso ist "und" stärker als "oder"? Wie formulieren wir Ziele, die eben nicht mit "Gegen" anfangen oder mit "verhindern" aufhören (und warum sollten wir darauf achten)?
Auch Argumente werden auf verschiedenste Weise entwertet, verdreht oder emotionalisiert: Wenn Politiker z.B. sagen "Wir müssen die Ängste ernst nehmen!" tun sie genau das Gegenteil, weil sie damit sachliche Kritik in eine irrationale Emotion verwandeln. Diese und weitere Standards der Diskussionsvermeidung will ich vorstellen und auch Vorschläge machen, darauf zu reagieren. Und zu zeigen, dass das umgekehrt auch gut funktionieren kann.
Anmerkung:
Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, das auch als Panel zu machen, habe aber noch niemanden angefragt (Die Idee kam mir gerade erst beim schreiben). Als TeilnehmerInnen würden mir beispielsweise spontan Anne Roth (als Expertin zum Thema Netzpolitik, Privacy, Überwachung) und Katharina Nocun (die mir im LNP-Podcast das erste Mal wirklich verdeutlicht hat, wo bei TTIP die Probleme liegen) einfallen. Maha würde auch zum Thema passen, wenn es um rethorische Spitzfindigkeiten geht und darum, wie man die kontern kann.
Vor einiger Zeit geisterte das Narrativ durch die Netzwelt, die Snowden-Enthüllungen hätten ja nichts geändert. Ich hatte daraufhin ein anderes Bild aufgemacht: Nur weil es keine allgemeine Empörung gibt, heißt das nicht, dass nichts passiert. Es heißt erst mal nur, dass das Thema sich nicht für eine plötzliche allgemeine Empörung eignet.
Meine Vermutung war, dass sich das Bewusstsein langsamer, aber dennoch stetig seine Bahn in die weniger netzaffinen Bereiche der Gesellschaft bahnt (und daher auch keine allgemeine Empörung zu sehen war). Ich merkte an, dass EntwicklerInnen und IngenieurInnen schon begonnen hatten, ihre Apps, Dienste und Hardware sicherer zu machen und dass Cryptografie bald nicht als Add-On sondern als Standard in neuen Produkten und Diensten erwartet und auch geliefert wird. Und dass das nur etwas Zeit benötigen wird, denn sowas wird ja nicht von einem Tag auf den anderen fertig. Aber wenn inzwischen sogar der unsicherste und dennoch verbreitetste Messenger WhatsApp Verschlüsselung einführt und ausbaut, dürfte klar sein, dass wir uns bei der Anforderung, dass unsere private Kommunikation wieder vertraulich zu sein hat, nicht in einer Nische befinden.
Der Artikel ist vom 3. Juli. Das was ich darin beschreibe, war meiner Meinung schon sehr sichtbar, aber konkrete Wirkungen eventuell noch nicht. Jetzt aber sind sie es auch. Indirekt.
Der Britische Premierminister Cameron verlangt das Verbot von Verschlüsselung. Barak Obama laviert sich zu einer ähnlichen Aussage. Heute nun kommen auch unsere deutschen Minister mit der Forderung daher, dass "Sicherheitsbehörden" (also Geheimdienste), Verschlüsselungen umgehen können müssen.
Was sagt uns das?
Zunächst mal was Gutes, nämlich: Die Geheimdienste, die Jahre lang jederzeit auf unsere Kommunikation zugreifen konnten, geht inzwischen offenbar schon so viel davon durch die Lappen, dass sie sich genötigt fühlen, bei ihren Dienstherren zu quengeln. Weiter noch: Wenn es jetzt schon so weit ist, dass man nach gesetzlichen Regelungen sucht, um Verschlüsselungen verhindern oder umgehen zu können, dann ist die "Aufrüstung" von uns BürgerInnen schon so weit gediehen, dass der technische Aufwand, unsere Kommunikation doch wieder irgendwie einzufangen, zu hoch ist, um das ohne Gesetze zu stemmen.
Es ist auch deswegen ein gutes Zeichen, weil erstens noch lange nicht jeder verschlüsselt und wir zweitens noch lange nicht am Ende der technischen Möglichkeiten sind, um Geheimdienste daran zu hindern, uns abzuhören. Und doch ist schon jetzt der Moment erreicht, an dem sie Schwierigkeiten bekommen.
Wie panisch man da wohl ist, zeigt sich auch an der löchrigen Argumentation, die zurechtzulegen man sich - um den Anschlag in Paris als Fahrwasser nicht zu verschenken - offensichtlich so beeilt hat, dass man den Widerspruch nicht mal versucht hat zu kaschieren, der sich aus der Behauptung ergibt, dass man ja Abhörmaßnahmen nur mit strengen richterlichen Auflagen und im Extremfall durchführen will, während ja jeder weiß, dass sie uns doch schon längst und jetzt gerade ganz ohne irgendwelche Legitimation abhören.
Die Logik wird ab diesem Punkt auch nicht mehr schlüssiger, im Gegenteil: Wer wirklich übles vor hat - und darum ginge es ja nur: absolute Extremsituationen - wird abhörbare Kommunikationsmedien einfach von vorneherein gar nicht erst verwenden oder sich einen Teufel um gesetzliche Vorgaben scheren und seine Kommunikation eben doch ordentlich verschlüsseln. Das heißt im Effekt, dass die Komplettüberwachung am Ende jeden Menschen überwacht, nur nicht die, zu deren Überwachung das alles angeblich gemacht wird.
Ich glaube daher, dass es für uns alle wichtig ist, den beschrittenen Pfad konsequent weiter zu verfolgen:
1. Es als Selbstverständlichkeit zu betrachten und zu propagieren, dass Verschlüsselung benutzt wird wenn immer das möglich ist.
2. Bei der Auswahl von Tools, Apps, Services immer diejenigen zu bevorzugen, die die Privatsphäre und Sicherheit der Nutzer und ihrer Daten Ernst nehmen und für die entsprechende Standards selbstverständlich sind.
3. Bei der Entwicklung von neuen Tools und Produkten schon von Beginn an für sichere Verbindungen und Schutz davor, ausspioniert zu werden zu sorgen, so dass das nicht nachträglich langwierig umgebaut werden muss oder Nutzer erst noch eigene Maßnahmen drumherumbauen müssen, damit sie ihre Privatsphäre behalten.
Eine Bitte an Journalisten: Wenn ihr die Gelegenheit habt, mal einen dieser Herren, die da gerade rund gehen, eine Frage zu stellen, dann stellt ihnen bitte mal diese:
"Vor über einem Jahr, als bekannt geworden ist, dass uns die US und UK-Geheimdienste abhören und unsere Geheimdienste ihnen dabei helfen, haben Sie gesagt, der Bürger müsse sich selbst darum kümmern, dass seine Kommunikation verschlüsselt wird. Jetzt tut er genau das und nun wollen Sie genau deswegen Verschlüsselung verbieten oder unterlaufen. We Te Eff, Herr Minister?"